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[heft 7] [oktober 2012] wien - st. wolfgang



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Die Einzelnen
Mario Karl Hladicz


Schon wieder sah ich eine Motte durchs Zimmer flattern. Erst kürzlich hatte ich eine teure Mottenfalle entsorgt; darin hatten sich neun gefangene Insekten befunden. Manche hatten noch schwach mit den kleinen Flügeln geschlagen. Die umherfliegende Motte bedrückte mich. Sofort war ich wieder vom Gefühl beherrscht, dass es mit mir unaufhaltsam bergab ging. Eines Tages würde ich wohl meine alten Kleider wegschmeißen müssen; die Angst, nichts zu besitzen, hielt mich bislang zurück. Als ich aus dem Bett aufstand, schlug ich ein paarmal kraftlos nach der Motte. Sie senkte ihren Flug und verschwand hinter einem Regal. Ratlos stand ich in meinem Zimmer. Es war bald Mittag. Je ärmer man ist, desto später steht man auf; man muss dann nicht mehr so viele Stunden mit seinem Ungenügen verbringen. Da fiel mir ein, dass ich in meinem Postfach nachsehen konnte, ob mir vielleicht jemand geschrieben hatte. Ich huschte ins Treppenhaus und stand auch schon vor den Postfächern, die mir mit ihrem metallischen Glanz zu einer (kurzen) Verheißung wurden. Mein Postfach zu öffnen wagte ich nicht; ich lugte bloß mit einem Auge durch die dünnen Postfachschlitze. Mein Fach war (natürlich) leer. Wie gerne hätte ich einen freundlichen Brief erhalten! Vorsichtig hätte ich den Brief geöffnet und ihn am Tisch sitzend immer und immer wieder gelesen; so hätte ich still den Tag verbracht. Nun aber hielt mir die dumme Sehnsucht nach einem Brief mein verpfuschtes Leben vor Augen. Wer hätte mir auch schreiben sollen? Zurück im Zimmer nahm ich rasch einen muffigen Geruch wahr. Ich wusste nicht, ob der Geruch einen schlecht gelüfteten Raum oder ein schlecht geführtes Leben zum Ausdruck brachte. Weil mir sonst nichts mehr einfiel, nahm ich eine bereits braun werdende Banane aus der Obstschüssel und aß sie fade im Stehen. Dabei sah ich aus dem Fenster; auch draußen wurde alles braun, der Herbst hielt Einzug. Als ich fertig war, warf ich die Bananenschale in Richtung Abfallkorb. Die Schale blieb an der Kante des Korbs hängen und rutschte langsam zu Boden; das Leben war einmal mehr ein Fehl(ent)wurf.
Plötzlich wirkten alle Gegenstände in ihrer Alltäglichkeit auf mich zutiefst aufdringlich; die Staubflusen am Boden, auf die ich schon lange nicht mehr allergisch, die zwei Sessel an meinem Tisch, von denen einer stets überflüssig war, meine Bücher, von denen ich schon etliche verscherbelt hatte; die immer größer werdenden Lücken in den Regalen waren ein schmerzliches Bild für meine sich vergrößernde Armut. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass hier nicht ich, sondern nur mein Unglück zuhause sei und wollte fliehen. Ich wollte meine Schritte auf dem knarrenden Holzboden nicht mehr hören; es waren die Schritte eines Einzelnen. An der frischen Luft war mir, als verließe ich mein miefiges Leben für immer. Ich ging umher und sah den Menschen ringsum dabei zu, wie sie ihre reichen Leben ausstellten. Ihre Uhren funkelten in der Herbstsonne, ihre Mobiltelefone hielten sie sich ans Ohr und während sie redeten, kniffen sie ihre Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, was ihnen etwas Hinterhältiges verlieh. Was führten sie im Schilde? Ich stand abseits; ich brauchte keine Uhr, da Zeit für einen wie mich keine Rolle spielt, und auch kein Mobiltelefon, da mich keiner sprechen will. Ich kam an einem Maronistand vorbei. Ich hatte Hunger und seit Ewigkeiten keine Maroni mehr gegessen, dennoch zögerte ich, auf den Maronibrater zuzutreten und ein Viertel zu kaufen. Einer wie ich muss maßvoll leben; Maroni sind keine richtige Mahlzeit, für zwei Euro kann man sich auch schon etwas Anständiges kaufen… so dachte ich dahin und ärgerte mich zugleich über meine Gedanken; ständig muss der Arme über alles grübeln, alles auseinandernehmen, damit er nur ja auch stets an seine Armut erinnert wird. Der Maronibrater sah mich an. Ich wollte auf ihn nicht den Eindruck machen, dass ich womöglich einer sei, der ernsthaft überlegt, ob er sich Maroni leisten kann. Mit fester Stimme bestellte ich ein Viertel, welches er mir in einer Packung aus Zeitungspapier in die Hand drückte. Als ich die erste Nuss in den Mund nahm, hatte ich das Gefühl, langsam meine Zwänge zu zerkauen. Erleichtert ging ich weiter und ließ die Schalen achtlos auf den Gehsteig fallen. Manchmal hörte ich, wie hinter mir jemand darauf trat. Da bog ein alter Bekannter um die Ecke. Ich brauchte ein wenig, um das traurige Gesicht einzuordnen. Es war Robert, ein früherer Schulkollege. Seit vielen Jahren arbeitete er in einem grauen Bürogebäude, an dem ich hin und wieder vorbeiging. Stets hatte ich ihn hinter einem Fenster im ersten Stock starr an einem Schreibtisch sitzen gesehen. Jedes Mal, wenn ich ihn dort sitzen sah, dachte ich, dass hinter diesen muffigen Gardinen nicht Robert selbst, sondern bloß eine leblose Attrappe saß.
- Robert! rief ich. Woran denkst du?
- Hallo Jakob, antwortete Robert bedrückt. Ich denke an mein Elend.
- Du auch?
Robert sah auf meine Maroni. Sein Aktenkoffer baumelte wie eine leblose Verlängerung des Körpers an seinem Arm herunter.
- Stell dir vor, sagte er, gerade eben wurde ich gekündigt.
- Das tut mir leid, sagte ich. Wieso?
- Kein besonderer Grund, winkte Robert ab. Mein Chef hat mich in sein Büro rufen lassen. Da habe ich es schon gewusst. Ich wollte auf der Stelle meine Sachen packen und flüchten, doch ich ging in das Büro des Chefs und setzte mich ihm gegenüber hin und hörte mir stumm an, wie ich gekündigt wurde. Herr Weber, sagte mein Chef, wir müssen leider auf Ihre Dienste verzichten. Und er drückte mir einige Papiere in die Hand, die ich schnell im Aktenkoffer verschwinden ließ. Dann bedankte ich mich, das musst du dir vorstellen, ich bedankte mich tatsächlich und trat aus dem Gebäude.
Ich nickte stumm.
- Doch das ist noch nicht alles! rief Robert aus. Wie ich so vor dem Bürogebäude stand, wusste ich nicht, wohin. Ich schaute nach links und rechts und wusste nicht, welchen Weg ich einschlagen sollte. Ich überlegte, ob ich geradewegs nach Hause gehen sollte oder stante pede zum Arbeitsamt, um mich arbeitslos zu melden, oder ob ich zuerst einmal ein wenig durch die Stadt wandern sollte, um die Entwicklungen auf mich wirken zu lassen. Ich zögerte also, und da passierte es: Ein Vogel schiss mich an. Stell dir das vor Jakob, ich stehe gerade gekündigt vor meinem nunmehr ehemaligen Bürogebäude und werde, um dem ganzen die Krone aufzusetzen, von einem Vogel angeschissen. Da, schau her! rief Robert jetzt immer lauter. Siehst du den Fleck?
Und er zeigte auf seine Schulter, auf der tatsächlich ein großer weißer, in den Stoff eingeriebener Vogelscheißefleck zu sehen war.
- Ja, sagte ich, das ist natürlich heftig.
- Als ob er auf mich gezielt hätte, klagte Robert. Als ob ein Verzweifelter auch noch äußerlich gekennzeichnet werden müsste, damit auch jeder gewarnt ist! Ich hätte natürlich ins Bürogebäude zurückgehen und auf der Toilette den Fleck aus dem Sakko waschen sollen, ich traute mich aber nicht, wo ich doch eben hinausgeschmissen worden war. Verstehst du? Zurück zu gehen war mir unmöglich. Gleichzeitig ekelte ich mich vor dem Fleck und somit vor mir selbst. Mir war, als ob ich nur noch dieser Fleck sei, stammelte Robert, schon mehr in sich hinein.
Habe ich auch etwas in den Haaren? fragte er mich mit feuchten Augen.
- Nein, ich kann nichts sehen, antwortete ich.
Wir standen eine Weile da.
- Und was machst du jetzt? fragte ich dann und nahm die letzte Nuss in den Mund.
- Ich flüchte nach Hause.
Grußlos zog Robert weiter, dabei hielt er sich ganz knapp an den Häuserwänden, um seinen Makel so gut als möglich vor den Leuten zu verstecken. Bald verlor ich ihn aus den Augen. Wie er zuvor stand nun ich unschlüssig da. Ich bekam es mit der Angst zu tun; bange sah ich hoch, doch weit und breit war kein Vogel zu sehen, der mich ebenfalls als Gescheiterten kennzeichnen konnte. Meine leere Maronipackung warf ich in den nächsten Mülleimer. Dabei entrollte sich die Zeitungspapiertüte und gab den Blick frei auf eine fett gedruckte Schlagzeile, welche mich noch für einige Zeit vor dem Mülleimer verharren ließ: 1 Million Österreicher armutsgefährdet. Ich war nur einer von vielen. Die Beruhigung blieb aus.



© beim autor


mario karl hladicz. geboren 1984 in graz. studium der germanistik und anglistik/amerikanistik. veröffentlichungen von prosa, lyrik und literaturkritiken in diversen zeitschriften.



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