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[heft 6] [dezember 2011] wien - st. wolfgang
Sophy in Love – Eine Körperresonanzbetrachtung
zu ausgewählten Vorträgen und Performances des Festivals Philosophy on stage #3
im Haus Wittgenstein in Wien vom 24.- 27. November 2011
Edda Lahmann
Meine Auswahl der hier besprochenen Beiträge des Festivals "Philosophy on stage #3" beschränkt sich auf Performances, Lecture-Performances und Vorträge des ersten Festivaltages, die in mir eine körperliche Resonanz erzeugt haben, die eine hohe Komplexität der Wahrnehmung bereit hielten, die ich allesamt als persönliche Aussagen und Auseinandersetzungen über und mit dem Körper, dem Denken, der Sprache und der Philosophie verstehe und die mich zum Schreiben inspiriert haben. Den Beitrag über Sybille Krämer habe ich aufgrund ihrer faszinierenden Persönlichkeit und ihrer Art vorzutragen in meine Betrachtung aufgenommen. Die Beiträge von Frans Poelstra am selben Tag und von Thiemo Strutzenberger am Festivalsamstag sind für mich poetische Stücke, die eine andere Betrachtungsanalyse notwendig machen und daher nicht in diese Betrachtung aufgenommen worden sind. Ich habe diesem ersten Festivaltag, inspiriert durch das Wort-Sprachspiel von Frans Poelstra, den Titel "Sophy in Love" gegeben, weil durch die performativen Beiträge auch zu einem großen Teil jener der Young Performance Corner eine Enttäuschung an der akademischen Philosophie geheilt ist, die sich auf die Beiträge an den darauf folgenden Tagen hinsichtlich des körperlichen Wissens und seiner autonomen Eigensprachlichkeit für mich nicht oder nur kaum übertragen ließen. Den zweiten Teil des Titels verdanke ich dem eingängigen Refrain 'Körper sind Resonanzkörper' der Performance von Rosa Danner und Esther Hutfless, den ich aus voller Überzeugung und Erfahrung teile.
Vorab danke ich den Organisatoren von "Philosophy on stage #3" für das Festival mit seiner immensen Vielfalt, ich danke Arno Böhler für die sehr positive Aufnahme meines Textes, auch durch seine Assistentin Elisabeth Schäfer, ihr insbesondere für die äußerst behutsame Besprechung meines Textes und durch sie initiierte punktuelle Klärungen textimmanenter Aussagen.
Die erste Station am Freitag im Speisezimmer des Wittgensteinhauses die Performance von Dieter Mersch. Ein mit Menschen überfüllter Raum. In der Mitte ein mit Messinggeländer abgegrenzter ovaler Freiraum mit aufgewölbtem Packpapier am Boden, so als verhülle sie eine am Boden liegende Figur, daneben eine zusammengelegte beigefarbene Wolldecke. Vor der hinteren Raumwand sitzt Dieter Mersch, schwarz gekleidet, hinter einem provisorisch ebenfalls mit Packpapier bedeckten schmalen organisch anmutenden Tisch. Ihm gegenüber, über das Raumoval hinweg, rechts vom Eingang ein länglicher Tisch mit Boxen, Aufnahme- und Abspielgerät. Von beiden Raumpolen die Stimme Dieter Merschs, aktual sprechend und vom Abspielgerät laufend zeitversetzt. - Ich positionierte mich zwischen elektronischer Anlage und Raumoval und stehe somit frontal zu Dieter Mersch. Die Fülle und Enge des Raumes und der am Text und nicht an die Zuhörer gebundene Vortrag verärgern mich, dazu empfinde ich die Anspannung von Dieter Mersch in Mimik und Haltung körperlich eindringlich, so dass ich den Raum wieder verlasse. - Ich hatte mich mit meiner gewählten Position an die Stelle seines Wettkampfpartners gestellt, die dem Titel der Performance "Agon: Memory Combat" folgend, die Erinnerung als seinen Herausforderer repräsentierte. Da sich beide Stimmen asynchron überlagerten war dem Zuhörer, wie dem Sprecher dieselbe Schwierigkeit auferlegt den roten Faden im eigenen Sprechen und im Hören des Gesprochenen zu verfolgen. Ich habe diesen Wettkampf nicht auf mich genommen, nicht nur weil er mir körperlich unangenehm war, sondern weil ich mir bei vollem Vortrags- und Performanceprogramm des Festivals lieber das Ende anschauen wollte, ob und wie die Anspannung in Dieter Merschs Mimik und Haltung sich nach zwölf Stunden gelöst haben würde.
Die zweite Performance von Alice Pechriggl, Markus Brandstätter, Martina Cizek und Fred Ilger, stellte eine ähnliche Situation in Bezug auf die Menschenmenge dar. Die Wahrnehmungsfläche war jedoch nicht mehr mein Körper oder der Körper eines anderen, da eine körperfrontale Begegnung aufgrund der Menschendichte unmöglich und auch in der Anlage der Performance nicht vorgesehen war. Die Performerin Alice Pechriggl bestieg einen hohen Regiestuhl, so dass sie über den Köpfen der Anwesenden für alle sichtbar war. Die Videoprojektionen waren in zwei Raumrichtungen ebenfalls über den Zuschauern erhöht an den Wänden zu sehen. Mit Laptop auf den Knien begann Alice Pechriggl mit beiden Händen tippend über das Schreiben und Denken zu reden als eine die Schreib-und-Denkhandlung simultan vergegenwärtigende visuell-akustische Demonstration, die sich über die Videoprojektion des sprech-schreibenden Denkaktes fortsetzte. Es folgen weitere Sequenzen mit Tippen und Tonbandabspiel ihrer sprechenden Stimme mit identer Videoprojektion und Szenen ihrer gestischen und motorischen Denk- und Sprechakte in einem Seminarraum vor einem Zuhörer. Sprechen und Tippen, Tippen und Tonbandabspiel mit wechselnden Bildern der aktuellen Situation der Schreibenden und Sprechenden und die transportierte Situation der gestikulierend sprechend, jedoch nicht hörbar, im Seminarraum Sitzenden und durch denselben Bewegenden, sowie Klang- und Geräuschbegleitende akustische Elemente wechseln sich ab, sowohl überlappend als auch aneinandergefügt zu einem fließenden Ablauf der Mehrspurigkeit des Rede-Denk-Schreibprozesses. Eine Mehrspurigkeit, die Gegenwart und Erinnerung, Denken und Körperliche Motorik, Bestimmtes und Unbestimmtes im Schreiben als extensiver körperlich motorischer, visuell und akustischer Akt zusammenfügt.
Die Situation für mich als Wahrnehmende und Teilhabende der Performance war die der körperlichen Entspanntheit und Erkenntnis als Wiedererkennen meiner eigenen Denk-Schreibakte und Rede-Denkakte. Die akustische und visuell-filmische Begleitung verstehe ich als eine Simulation der hohen körper-geistigen Leistung der Transformation von Wahrnehmungsinhalten und Gedanken zu ihrer begrifflichen Sinn- und Bedeutungsfassung in Worte, Sätze und Texte und als die je vergessene Gegenwart unserer akustischen und visuellen Umgebung und Verfasstheit bei der Reduzierung und Purifizierung des Seins in Gedanken und schließlich in Text. Hinzu die wahrnehmungsphysiologisch notwendige Verbindung akustisch narrativer Elemente für die Lesbarkeit von stummen bewegten Bildern.
Die zwei angrenzenden Vorträge von Sriram und Rolf Elberfeld erzielten mit unterschiedlichen Mitteln eine körperresonierende Wirkmächtigkeit. Sriram trug seinen Vortrag am Stehpult vor, der den unteren Teil seines Oberkörpers verdeckte, Beine und Füße jedoch sichtbar ließ. Körperruhe und Sprechführung zeigten eine gegensätzliche Dynamik und damit auch eine unterschiedliche Aussage. Füße und Beine stellten eine rege Stellungs- / Balancefrage. Der gesprochene Text, obschon vom Blatt gelesen, glich mehr einem musikalischen Vortrag, langsam mit ruhiger tiefer Stimme, mit gedehnten Pausen innerhalb und zwischen den Aussagen vorgetragen. Die Worte waren auf diese Weise getragen und ihre Bedeutung durch Dualismen und Analogien in Sprünge und Spannung gesetzt. Mein eigenes Denken bewegte sich durch die Pausen, Betonungen, Dualismen und Analogien animiert wie auf einer aufgeschlagenen Landkarte von einem bezeichneten Ort zum nächsten, spielerisch tanzend in ungewöhnlichen Rhythmen, Hebungen und Senkungen und ich wünschte mir selbst zu tanzen und zu singen. – Die inhaltliche Ebene, die Beschreibung der Welt aus dem dualistischen Prinzip null und eins und dem Begehren des Nichts zum Etwas. Analog der Dualismus zwischen Mann und Frau und ihr Begehren, repräsentiert durch die Gottheiten Shiva und Shakti und die Synthese beider Prinzipien durch ihre sexuelle Vereinigung. Der menschliche Körper aber steht mit der Welt über das Prana in Verbindung, das die Welt und alles Seiende durchströmt und verbindet, und das über das Kehlchakra als konkret benannter Ort im Vortrag lokalisiert und bezeichnet, in den körperbelebenden Atem transformiert wird, der die Stimme und das gesprochene Wort erst ermöglicht. – Die Essenz des Vortrags in diesen drei Schritten ist so simpel wie wahr und ist nichts anderes als der große Tanz der hinduistischen Philosophie und Kultur und ein Archaismus der menschlichen Kultur. – Die Einheit von Wort, Bewegung und Stimme ist der rituelle Nukleus der meisten Hochkulturen, die nicht notwendig von einer Person performt werden. Das Wort jedoch, die Erzählung hat im Ritus die Kraft stimmliche und tänzerische Extase in den Hörenden freizusetzen. Sriram hat in seinem Vortrag diesen Archaismus lebendig gemacht, denn ich habe den Impuls zu tanzen und zu singen vernommen – aber ich habe nicht angefangen zu Tanzen und zu singen.
Sriram ist sowohl Yogalehrer, ausgebildet in Indien, als auch Autor und Referent an Hochschulen für Yoga und die Yoga-Tantrische Philosophie.
Rolf Elberfeld bediente sich für seinen Vortrag einer Bühne, eines Podestes von etwa einem Meter Höhe und ca. zweieinhalb Metern Länge, und eines Stuhles. Sein Vortrag "Zwischen Sagen und Zeigen. Jikaku: Selbstbewusstsein, Selbstwahrnehmung, Selbstgewahren." war gemäß der Definition des japanischen Wortes Jikaku in drei Abschnitte gegliedert. Den ersten Teil trug Elberfeld sitzend, sachlich ohne weitere Beteiligung körperlicher Akzente und Gesten vor. Den zweiten Teil demonstrierte Rolf Elberfeld stehend, indem er die unterschiedlichen Sinnesorgane in ihrer Aktivität zeigte. Das Schmecken und die Berührung hatten den deutlichsten demonstrativen Charakter. Die Selbstberührung veränderte seine Stimmführung und die Aufmerksamkeit des Publikums. Indem er den Ärmel seines Pullovers hochzog und sich mit der Hand über den nackten Arm strich, langsam, sichtlich gefühlvoll, war er als Berührender und Berührter wahrnehmbar. Die Worte setzte er als Erläuterung vor die zeigende Handlung und ließ die zeigende Handlung in ihrer Gewichtung führen und inszenierte damit die Selbstwahrnehmung. Der dritte Teil galt dem Selbstgewahren, das Rolf Elberfeld ohne weitere Erläuterung als automotorische Selbstäußerung mit seinem ganzen Körper demonstrierte. Im Gedächtnis blieb mir der erste Aspekt seiner Demonstration von „jikaku“ als Vortrag mit rein rationalem Charakter ohne mnemotechnische Wirkung. Der Ausdruckskörper des Redners, seine emotionale Beteiligung, war so gut wie gar nicht vorhanden. Der zweite Aspekt, die Selbstwahrnehmung, ist mir vor allem im Moment der Selbstberührung, der doppelten Empfindung gegenwärtig. Die Selbstberührung von Rolf Elberfeld als solche bewirkte eine Änderung, sie initiierte den Selbstkontakt und damit auch eine merkliche Zustandsveränderung, die einem Lauschen des Körpers nach der Berührung gleichkam, und die auch das Lauschen, die Aufmerksamkeit und Stille im Publikum erhöht hat. Der intendierte Begriff der Selbstwahrnehmung ist mir dabei nicht gegenwärtig und ich meine deshalb, weil er rein körperlich-sinnlich als Aufeinanderfolge von Sinnesempfindungen demonstriert worden ist und weil ich das Selbst als eine bestimmte Qualität und Entität verstehe, dem ich mich weniger über einzelne Sinne als vielmehr über eine eher geistige Innenschau zuwende, die die sinnliche Wahrnehmung und Empfindung mit einschließt. Somit ist mir über die Demonstration allein der Akt und der Begriff der Selbstberührung gegenwärtig. Den letzten Aspekt, das Selbstgewahren, demonstrierte Elberfeld in einer vollkommen individuellen, dem Moment und dem Zustand geschuldeten Bewegung, die die Körperachse aus der Streckung in räumliche Wellenbewegungen versetzte, ähnlich einem Tanz, dabei so langsam, dass jede seiner Bewegungen wahrgenommen werden konnte. Mir ist diese Bewegungsweise vertraut, aber sie blieb in der Betrachtung etwas Bildhaftes, Unberührbares, das mich eher aufforderte wegzuschauen, denn dort gab es eigentlich nichts zu sehen. Das Selbstgewahren hätte ja in mir stattfinden müssen, um es zu verstehen. Ich habe die Bewegung aber verstanden als eine mir vertraute Bewegungsweise, in der ich mich schon geübt hatte ein anderes mal an einem anderen Ort. Die zahlreichen Nachfragen zum Selbstgewahren im Anschluss an den Vortrag resultieren möglicherweise aus dieser jeweils wahrgenommenen Entfremdung zum eigenen Gewahren. Ich selbst bildete mir meinen eigenen Begriff von Selbstgewahren als automotorische Selbstäußerung.
"I did once a piece, da bin ich von hier gekommen und bin hier hin gegangen..." zwischen den beiden "hier" liegt eine von der Tänzerin und Performerin Milli Bitterli gelaufene Raumdistanz im Theatersaal des Wittgensteinhauses in Wien.
"I did once a piece" und die Dopplung von "hier" bezeichnet genau drei Zeiten, einen Zeitraum in zeitlich unbestimmter Vergangenheit und zwei aufeinander folgende Zeitpunkte, die an unterschiedlichen Orten innerhalb eines Raumes aktual demonstrativ ausgesagt werden. Ich stelle mir nicht die Raumdistanz vor oder die verschiedenen bezeichneten Orte, wie bei einer bloß stimmlich vorgetragenen Erzählung, da ich die Tänzerin die Distanz zurücklegen sehe, ihr mit meinen Augen, mit meinem ganzen Körper, durch meine Eigendrehung auf dem Stuhl, auf dem ich sitze, durch den Raum folge und sie "hier" und "hier" an unterschiedlichen Orten des Raumes sehe. Ich nehme an ihrer Bewegung durch den Raum sehend, hörend und bewegend teil und nehme darüber hinaus über ihren offenen und vertrauensvollen Blickkontakt, den sie zu mir und den anderen Anwesenden während ihrer Performance wiederholt aufnimmt, fühlend und denkend Anteil. Trotz initiierter hoher Blickempathie, durch den in körperlicher Nähe gerichteten und begegnenden Blick, bleiben die Identitäten klar. Milli Bitterli performt und erzählt, demonstriert und lebt die Bewegung in wiederholter Bezugnahme, Analogie und oder Korrelation zu einem batteriegesteuerten Spielzeug - ein batteriebetriebener Ball mit Fellschwanz und eine Wasserflasche sind Requisiten der Performance. Während ihrer Performance hemmt Milli Bitterli den Ball in seiner räumlichen Bewegung, zuerst durch händische Korrektur, wie man ein Baby immer wieder an seinen Platz zurücksetzt, damit es außerhalb der Gefahrenzone bleibt, dann im Korsett des linken Schuhs wackelnd, nachdem sie die Schuhe ausgezogen hat und schließlich unter dem Hemd zuckend, das Milli Bitterli von ihrem Körper abgestreift und über den Ball gestülpt hat. Ihre eigenen Körperbewegungen sind zunächst zwanghaft und automotorisch ohne Unterlass, dann narrativer, dabei redet sie zeitgleich zur Bewegung, was sie gerade tut, wie die Bewegung ist, was die Bewegung an ihr tut und was das Denken während der Bewegung tut, dass es nicht aufhört und oft schneller als die Bewegung ist, was die Technik an der Bewegung macht, ihre Herrschaft über die Bewegung und wie sie ihre Bewegungen jenseits der erlernten Technik empfindet, bei welcher Bewegung sie zufrieden ist, eben mit langen aufgerichteten Armen, wie ein Engel, und was der Körper will und gern hat und welche Bewegungen Freude machen und wann Stille ist, ganz der Bewegung, ganz der Wand hingegeben zu sein, was Form ist, was umformen von Formen ist, was tanzen ist, der eigene Körper und nicht der eigene Körper, Identität und Nicht-Identität, Geschlechtlichkeit und Nichtgeschlechtlichkeit, das unterschiedliche Empfinden mit Frauen oder mit Männern zu tanzen, die Inspiration und ihr Eigenwille dann zu erscheinen, wann sie will und einfach zu nehmen, was da ist, eine Geste und zu was man die Geste umformen kann, zu einer neuen Geste und damit eine Bedeutung, einen Sinn oder einen Unsinn aus alter Zeit und anderem Ort in eine neue Bedeutung jetziger oder irgendeiner Zeit an diesen oder einem anderen Ort. - Ich erinnere mich hier und jetzt schreibend an die Rededenkakte und kann sie mit Unterstützung der Bilder der Bewegungsakte besser erinnern als umgekehrt, obwohl artikuliertes Denken und Bewegung synchron verliefen. Die Flüchtigkeit der Bewegungsbilder ist hoch, obschon sie durch Worte begleitet waren. Trotzdem gibt es starke Bilder, wie das isolierte Schütteln der Körperteile bei der Frage der Identität, ich bin mein Bein, ich bin nicht mein Bein, ich bin mein Arm, ich bin nicht mein Arm usw. und die Bewegungssequenz auf dem Podest, die Balance, das Herabgleiten und Hinaufschwingen, die Atemlosigkeit und die reine Lust an der Bewegung, die von Momenten des Nichtredens begleitet war und schließlich das Ermattetsein, die Ruhe der Bewegung und die ganzkörperflächige Berührung mit der Wand. - Ein Moment der Sinnlichkeit, deren Genuss und Intensität reflektierend und vergleichend wie ein Duft allzu schnell verflogen ist. - Der selbstlaufende Mechanismus des Balles hat ausgesetzt, wann und wie? von selbst? oder zufällig oder beabsichtigt während der Bewegungsfolge auf dem Podest? Er wird wieder in Gang gesetzt und damit auch die dichte selbstbezügliche Bewegungsfolge und das Redendenken, die Erinnerung kommt hinzu, ein Initial, die Lust an der Umformung, an der Umdeutung von Form, von körperlichen Aussagen, die in der Umdeutung neuen Sinn ergeben, Spielraum und Entscheidung freisetzen und auch die Möglichkeit etwas zu beenden und die Form zur eindeutigen Aussage werden zu lassen – wie das Armheben eines Mitschülers, der scheinbar automatisch bei jeder Gelegenheit seinen Arm hob, ohne etwas zu sagen, zur winkenden Abschiedsgeste, mit der Milli Bitterli den Raum verlässt.
Am Ende der Performance bin ich nicht zufrieden.
Der Moment an der Wand, die totale körperliche Hingabe in der Ermattung, mit dem Rücken zum Publikum, eine Offenbahrung, der Schutz, das Halten, der Widerstand des Stabilen, Manifesten, Statischen der Wand und dabei die volle Sinnlichkeit, die sich an der Wand ergießt. Und ich frage mich, sind wir betrogen um die Lust und Zärtlichkeit? - war der Empathie evozierende Blick im voraus eine Bitte um Verzeihung?
Ist die Abkehr von der Sinnlichkeit in der Perfomance eine Abkehr vom eigenen Körper und den Körpern der Anwesenden, die nicht nur mit den Augen und Blicken anwesend sind, sondern gerade körperlich und die auch körperlich der Empathie, Empfindung und Kommunikation fähig und bedürftig sind? Obwohl die durch den Blick evozierte Empathie stark war und mich an der Performance äußerst wohlwollend Anteilnehmen ließ, im Sinne einer passiven Körperlichkeit blieb ein unerfülltes Verlangen, eine Enttäuschung.
Wir geben uns mit der Blickempathie zufrieden und merken nicht, dass uns jemand um die fette Beute, das Lachen, das Kitzeln im Bauch, das Erschrecken, das Erstaunen, um all die lustvollen Dinge wahrer Kommunikation betrügt. Am Anfang aber war der Blick. Zu wahr, wir sind die Zuschauer, da hat jemand eine Tür einen Spalt breit geöffnet und wir durften hineinschauen und wenn sich die Tür wieder schließt, können wir danke sagen oder beleidigt sein, dass wir nicht mehr von der Sinnlichkeit bekommen haben, von dem Jetzt und Hier, von der lustvollen Ermattung an der Wand. Wir sind die braven Zuschauer, die im "once", im bereits Geschehenen, in der Vergangenheit von "i did once a piece .." sitzen geblieben sind und doch ist da an der Wand ein Begehren entzündet, das ungestillt geblieben ist.
Wenn da jemand mit treuherzigem Blick kommt, tanzt und redet, in einer Na(t)ivität, die uns zuerst nicht glauben lassen will, dass da jemand leidet, dass Reden und Bewegen zwei Spuren sind, von denen wir in ihrer Gleichzeitigkeit gerne denken, dass es ein Gespräch ist, die aber in ihrer Wandelbarkeit unterschiedliche Autoren und Herrschaftsverhältnisse haben und dennoch ineinander übergehen als wären es jeweils nur ein Autor, so fahren wir selbst in unterschiedlichen Fahrwassern der Automotorik von Denken, Fühlen und Wahrnehmen -
Und dennoch gibt es den Moment an der Wand, der das Begehren entzündete, den Moment einer möglichen Wende ins Hier und Jetzt, als Wende zum Gespräch mit dem eigenen Körper und über und mit dem eigenen Körper mit uns, dem Publikum - und dennoch sagen wir einfach ja und überschütten ihn bzw. sie – Jemand - die PerformerIn, die VortragendeR, die AkteurIn im Schutzraum der Bühne, die wir immer schon mitdenken, mitsehen unter dem Titel einer Performance, in der sich die AkteurIn zur IllusionistIn zur VerführerIn wandelt und die wir für die Andeutungen nicht zur Rechenschaft ziehen können oder wollen, gerade dann wenn sich das gesprochene Wort getrennt vom Körper äußert als Beobachtung, als rationale Beschreibung, als Erinnerung, als Erzählung und der Körper nicht in seinem Recht steht, denn dann folgen wir dem Wort und wir bekommen Mitleid mit dem Körper oder Mitleid mit dem Redendenkenden und wir haben uns selbst aus der Handlungspotenz herausgeschält, wie gegenüber einem Bettler oder einer Bettlerin, die uns anschaut, um Verständnis bittet und alles, was dann geschieht, unter diesem Empathie evozierenden Blick und seiner Erwiderung vor sich geht, mit dem wir implizit ein Einverständnis gegeben und den anderen von seiner Verpflichtung gegen uns freigesprochen haben [1] - mit Wohlwollen. Und wir finden das auch noch irgendwie richtig, weil wir die Bilder gewohnt sind und ein performender Körper durch das a-poetische Wort zum Bild wird oder der Automatismus des Denkens den Automatismus der Bewegung evoziert und den Körper zum Bild, zu einem bloß visuell wahrnehmbaren Körper werden lässt und wir uns selbst durch die bloße Narration in die passive Hörigkeit begeben. Von dem Bettler oder der Bettlerin erwarte ich nichts mehr zurück, denn Blick, Haltung, Geste und Wort sind eins und bedeuten konkret "ich kann nicht mehr, bitte hilf mir". Von der Performerin fordere ich die Einlösung oder Auflösung ihrer Verführung. Die Mischung beider Strategien ist eine provozierte Enttäuschung, auf der Basis der Verführung eine Frustration und schwer für mich zu nehmen.
"Dies ist keine Lecture-Performance, sondern ein Vortrag" , Sybille Krämer über ihren im Anschluss folgenden Vortrag.
Ein Mensch, der in den Gedankenströmen der europäischen Geistesgeschichte kontinuierlich seit gut vierzig Jahren "surft", kann, so glaube ich, nicht anders, wenn er bzw. sie darüber hinaus ein Wanderer auf dem Podium ist, als mit der Gewalt der Stimmen und der je eigenen Körperlichkeit eine Performance der europäischen Geistesgeschichte und ihrer Vortragstradition zu geben.
Sybille Krämers einleitende Worte eine Entschuldigung für die Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit des Publikums, die Versicherung, dass der Vortrag kurz sei. Ich gebe ihr gern meine Aufmerksamkeit, ein Gestus der guten Stube, der Gegenhöflichkeit und gebe ihr zugleich die Erlaubnis für das, was kommt im Voraus. – Wieder eine Strategie und die Allarmglocken habe ich nicht gehört. - Während des Vortrages wiederholt Sybille Krämer die höfliche Ansprache an das Publikum ihr zu folgen. Der Schlusssatz ein Dank für die in Anspruch genommene Aufmerksamkeit.
Sybille Krämer ist eine schmale, hochgewachsene Frau mit offenem, überschulterlangem, krausen Haar und großen wachen Augen. In Grau gekleidet, sportlich, weiß-grau gestreiftes Shirt, eine silberfacettierte Perle oder Stein an einer Kette am Kehlansatz, der bei jeder Bewegung mit dem Licht tanzt und meine Aufmerksamkeit auf sich zieht – Ich denke an die Eule Minervas. Jugendlicher Körper. Stimme einer reiferen Frau im Erzählmodus und in der Mittlerfunktion. Nicht das volle Volumen ihrer Stimme, sondern ein angepasster Modus. Nicht die großen Geister sprechen hier, obwohl sie anwesend sind oder wer ist anwesend, denn die Macht und das Recht wehen stark um das Haupt, doch Höflichkeit, Pädagogik und Didaktik drücken das Volumen ihrer Stimme.
Sybille Krämer hält den Vortrag, den sie als Skript zuvor austeilen lassen hat, frei, gehend und stehend, quasi auf einer Linie parallel zur Reihung des Publikums. Sie gestikuliert mit den Händen, zupft am Shirt, das sie seitlich an der Hüfte herabzieht. Ein fünfjähriges Mädchen, das vor zu vielen Augen sich seines zarten Körpers bewusst wird und zugleich auch seine Großmutter, die es mit Gelehrsamkeit und Güte zu schützen sucht, kommen mir in den Sinn.
Der Vortrag "Körperlichkeit des Denkens: Erkennen als Begehen eines Weges. Wider das Vorurteil der Körperlosigkeit des Denkens als angebliches 'Erbe der Philosophie'." ist leicht zu verstehen, obwohl er mir nicht einleuchtet. Mit Platon, Descartes und Kant zeichnet Sybille Krämer die Repräsentanz von Körpern nach. Der Körper erhält die Koordinaten der Kartografie. Die körpereigenen Koordinaten, Innen und Außen, davor und dahinter sind zugunsten der Zweidimensionalität aufgehoben. Innen und Außen, so ihre kompromisslose Entgegnung in voller Stimmgewalt - nun ganz in Schwarz gekleidet und betont maskulin - auf eine Publikumsfrage am Folgetag, seien eine Illusion. Eine bittere Pille auf die Höflichkeit und Scham des Vortages und so rufe ich den alten und weisen Griechen, der die Gedanken anderer zur Welt hat kommen lassen und ich denke mir um wie viel mehr eine Frau das von Natur aus kann – gebären. Dabei nimmt das Ei in ihr den Samen des Mannes in sich auf. In und mit ihrem Körper nährt sie das befruchtete Ei und es wächst in ihr zu einem menschlichen Wesen. Und was in ihrem Ei und im Samen des Mannes verschlüsselt war, ist nun in dem neuen Wesen zusammengefügt. Und heraus aus dem Körper der Frau kommt nun das fertige Menschenbaby bei der Geburt. Innen wird Außen nach biologisch dialektischem Prozess und einer zum Glück lebenslang geheimnisvoll andauernden Transformation.
Das Speisezimmer ist sichtlich gelehrt. Ich hocke mich seitlich zum Raumoval. Dieter Mersch sitzt an seinem Tisch auf dem sich ein Tablett mit asiatischer Teekanne und Trinkgefäß befinden, sowie einige andere Gegenstände, die am Morgen noch nicht dort waren. Er redet, allein. Der Rekorder scheint ausgeschaltet. Das Reden ist nicht mehr an die Disziplin seines Körpers gebunden. Er redet immer noch monologisch systematisch, aber es scheint keinen Zwang mehr zu geben, der sich körperlich ausdrückt oder spüren lässt. Körper und Reden scheinen nun zwei Entitäten unabhängig voneinander geworden zu sein. Der folgende Bewegungsablauf ist nun deutlich gerichtet und willensbezogen, während das Reden einem eigenen Automatismus folgt. Dieter Mersch steht auf, redet ununterbrochen weiter, geht zwischen Raumoval und Glasfront, öffnet eine der großen Terrassentüren – zuerst denke ich, um frische Luft herein zulassen – redet und geht hinaus. Im Hinausgehen hört er auf zu reden. Bald darauf kommt Dieter Mersch ohne zu reden, sichtlich erschöpft durch die Zimmertür wieder herein. Applaus, ein Lachen und Sprachlosigkeit empfangen ihn.
[1] Ich danke Elisabeth Schäfer für die Klärung der Frage wen ich denn mit "ihn bzw. sie" meine.
© bei der autorin
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