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[heft 5] [märz 2012] wien - st. wolfgang
Wir können nichts Besseres tun, als die Gewalt zu verraten.
Arne Hilke
Einleitende Vorbemerkungen
Wenige haben sich so sehr um das Andenken Günther Anders' bemüht wie Raimund Bahr, wie jener Mann also, dem wir hier zum 50. Wiegenfest
gratulieren. Der promovierte Historiker aus der Perle des Wienerwaldes veranstaltete seit Ende der 90er-Jahre als Leiter des
Günther-Anders-Forums viele Seminare und Tagungen. In seinem Verlag Edition Art Science erschienen zahlreiche Veröffentlichungen zu Anders,
unter anderem die von Bahr in langjähriger Arbeit erstellte Biographie, in der er das Leben des großen Denkers ausführlich darstellt.
Meine eigene erste Begegnung mit Raimund Bahr fand 2008 in Wien statt – ich war als Referent zu den Günther Anders Tagen eingeladen.
Bei einem gemeinsamen Café besuch waren wir sofort auf der sprichwörtlichen selben Wellenlänge. Zwar kam es aufgrund der
räumlichen Distanz nie zu einer vertieften Zusammenarbeit, trotzdem war die Begegnung für mich sehr beeindruckend. In Erinnerung
geblieben ist mir natürlich vor allem der gemeinsame Besuch am Grab von Günther Anders. Die Begegnung mit Bahr war dabei für mich
so prägend, dass ich im Dezember 2008 einen Artikel über ihn in die freie Enzyklopädie Wikipedia einstellte, der seitdem kontinuierlich
ausgebaut wurde.
Jenem Raimund Bahr möchte ich nun, herzlich zum Geburtstag gratulierend, den folgenden Text widmen.
In meinem letzten Aufsatz zum Thema Günther Anders habe ich die Anders-Kritiker behandelt und den Meister gegen einige Angriffe
verteidigt. Raimund Bahr ist nun nicht unbedingt als Anders-Kritiker bekannt – obwohl man ihm zugestehen muss, dass er sich durchaus
eine kritische Distanz bewahrt hat und sehr wohl in der Lage ist, dem Meister der Gelegenheitsphiliosophie stellenweise zu widersprechen.
Deshalb werde ich nun die Seiten wechseln und selbst – für die Länge eines Aufsatzes – zum Anders-Kritiker mutieren. Meine Absicht ist es,
mich mit den Anders'schen Thesen zur Gewalt auseinander zu setzen. Hierzu gibt es zwar bereits kritische Anmerkungen, doch diese bestehen
meist nur aus einer unreflektierten Ablehnung der Thesen Anders', oder sie laufen gar auf den Irrglauben hinaus, der große Essayist sei am
Ende seines Leben wohl etwas verwirrt gewesen. Ich möchte versuchen, die Anders'schen Ausführungen als durchaus angemessene und durchdachte
Reaktion auf die Bedrohung unserer Zeit ernst zu nehmen, ihnen aber trotzdem ein anderes Modell entgegenzustellen, nämlich das des
Wehrmachts Deserteurs Ludwig Baumann.
Das Gewalt-Thema ist dabei durchaus aktuell. Erst im November 2011 wurde die Ex-RAF-Frau Inge Viett zu 80 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt,
da sie Sabotage an Rüstungsbetrieben und Anschläge auf Bundeswehr-Ausrüstung in einer Rede befürwortete. Während die Masse sich in ihrem
Protest also auf friedliche Ansammlungen beschränkt (siehe beispielsweise die unzähligen Aktionen gegen das Bahn-Projekt Stuttgart 21),
gibt es zumindest aus linken Kreisen vereinzelt immer wieder befürwortende Aussagen zum Thema Gewaltanwendung im Widerstand.
Das Thema Gewalt bei Günther Anders
1987 erschien unter dem Titel "Gewalt – ja oder nein. Eine notwendige Diskussion" eine von Manfred Bissinger herausgegebene
Zusammenstellung von Äußerungen Anders' einerseits (erwähnenswert ist hier vor allem ein abgedrucktes Interview durch den Herausgeber)
sowie zahlreicher Reaktionen darauf. Es wurden hierbei Äußerungen sowohl von prominenter Seite wie auch aus dem sprichwörtlichen
"normalen Volk" zusammengetragen.
Im erwähnten Interview sind dann jene Passagen zu finden, die die Gemüter erregten. Die sicherlich prägnanteste Stelle lautet:
"Jedenfalls halte ich es für erforderlich, daß wir diejenigen, die die Macht innehaben und uns (ein millionenfaches "Uns")
bedrohen, einschüchtern. Da wird uns nichts anderes übrigbleiben, als zurückzudrohen und diejenigen Politiker, die gewissenlos
die Katastrophe in Kauf nehmen oder direkt vorbereiten, ineffektiv zu machen." (Bissinger 1987b, S. 24)
Anders argumentiert hier ganz offensichtlich mit dem Notwehr-Gedanken: Wir werden bedroht, also müssen wir den Bedrohenden ausschalten.
Atom-Kraftwerke und Atom-Bomben sind eine Gefahr für Leib und Leben von Millionen von Menschen (1) , wenn nicht gar der Menschheit
überhaupt – also müssen die, die jene Bomben und Kraftwerke bauen, unschädlich gemacht werden. Reine Notwehr. Wenn jemand mit gezogener
Waffe vor mir steht und mich bedroht, darf ich ihn (die Mittel dazu vorausgesetzt) schließlich auch kampfunfähig machen.
Anders weist jedoch sofort selbst darauf hin, dass es zum Thema Gewalt eine Einordnung in gute, erlaubte, vielleicht gar geforderte und
in schlechte, verbotene, verpönte Gewalt gibt:
"Gewalt wird so lange nicht nur erlaubt, sondern gilt als moralisch legitimiert, als sie von der anerkannten Macht gebraucht wird.
Macht selbst beruht ja stets auf der Möglichkeit der Gewaltausübung. Für jedermann war es ja 1939 selbstverständlich gewesen, mit in
den Krieg zu ziehen und "mitgewalttätig" zu werden (…)." (Bissinger 1987b, S. 25)
Da Gewalt gegen Menschen, gegen Eingentum, gegen die Politik etc. nicht als legitim gilt, belassen es die, die sich kritisch
beispielsweise der Atomkraft gegenüber verhalten wollen, bei Demonstrationen, Ostermärschen, Versammlungen, Reden. Derartiger Widerstand
ist jedoch für Anders nicht nur nicht ausreichend, vielmehr verhöhnt er ihn geradezu, findet ihn schädlich und kontraproduktiv:
"Und was die schon halb Einsichtigen betrifft – wenn die dann zu Tausenden zusammenkommen, vergessen sie, daß sie zusammenkommen,
um zusammen Angst zu haben und etwas gegen das Ängstigende zu tun. Denn sobald hunderttausend zusammen sind, wird automatisch ein
lustiges Volksfest daraus. Dann gibt es Würschtl, Tschernobyl mit Würschtl. Und dann kommen die Gitarren. Und wo die anfangen, da
fängt auch der emotionale Schwachsinn an. Denn die meisten Gitarrenspieler bedienen sich nur dreier Akkorde, die jeden Hörenden oder
Mitsingenden so trivialisieren, daß sie nicht mehr fähig sind, das Ungeheure, das sie zusammengetrieben hat, wirklich zu spüren."
(Bissinger 1987b, S. 27f.)
Zusammenfassend kann somit festgehalten werden:
Anders kann seine Aufforderung zur Gewalt sehr wohl begründen. Sie ist nicht Resultat einer geistigen Altersverwirrtheit,
sondern konsequentes Produkt seiner Denk- und Argumentationsweise, zudem, man mag es kaum so formulieren: fast schon verzweifelter
Ausruf eines Menschenfreundes, der hilflos mit ansehen muss, wie das, was es zu schützen gilt, nämlich das Leben aller, in
Gefahr geraten ist und immer stärker in Gefahr gerät.
Der Deserteur Ludwig Baumann als Gegenentwurf zum Notwehr-Gedanken
"Da fühlte ich mich, da ich kein Auschwitzhäftling gewesen war, da ich durch einen Zufall durchgekommen war, wie ein Deserteur."
(Günther Anders, zit. n. Bissinger 1987a, S. 14)
In meiner Kindheit war er eine präsente, eine prägende Gestalt, dieser kleine, drahtige Mann mit dem ernsten Blick, die Haare streng
zurückgekämmt. Wenn ich, an den Händen meiner Eltern durch die Fußgängerzone laufend, ihn sah, hatte er stets seine Plakate bei sich,
auf Tafeln hingen sie vorne und hinten vor seinem Körper. Seine Botschaft kam in unterschiedlichen Formulierungen daher, war jedoch
von der Sache her stets eindeutig und gleich: "Nie wieder Krieg!"
Baumann, Ende 1921 geboren, war ein junger Mann, als der zweite Weltkrieg begann. Der Hitlerjugend hatte er sich stets verweigert
(vgl. Hermann 2010, S. 228), auch hatte er grundsätzlich ein Problem mit Befehl und Gehorsam, wollte kein Soldat sein (ebd.).
Baumann erinnert sich:
"(...) als ich 1940 Soldat wurde, da bin ich auch gleich wieder angeeckt. … Ich habe dann mich einfach verweigert, wenn
ich z.B. für Vorgesetzte Stiefel putzen musste, das habe ich nicht getan. Die haben mich dann ganz furchtbar schikaniert (…).
Ich habe nur auf dem Bauch gelegen. Ich habe gerobbt, habe Strafwachen geschoben. Im Nachhinein habe ich gedacht, warum hast
du das gemacht? Du hast doch gewusst, dass sie dich so zur Sau machen. Aber ich habe nicht anders gekonnt."
(zit. n. Hermann 2010, S. 229)
Ein "Prinzip Trotz", wie bei Günther Anders?
Baumann kam dann in eine Hafenkompanie in Bordeaux. Dort hatte er nicht viel zu befürchten, konnte jedoch im Radio und
in der Wochenschau Eindrücke von der Kriegslage an der Ostfront bekommen. Diese Nachrichten führten dazu, dass er sich
noch mehr vom Krieg und der treibenden Ideologie distanzierte:
"So einen Krieg will ich nicht mitmachen. Ich will leben, ich will einfach leben." (Hermann 2010, S. 230)
Baumann desertierte gemeinsam mit einem Freund. Bereits nach kurzer Zeit wurden sie von einer Zollstreife aufgegriffen.
Zwar bewaffnet, setzten sie diese Waffen jedoch bei ihrer Festnahme nicht zur Verteidigung ein – Baumann wollte als
gewaltfrei denkender und handelnder Mensch nicht schießen, nicht töten, nicht einmal Hitlers Häscher.
Was dieser Festnahme folgte, war ein langes Martyrium. Baumann wurde zum Tode verurteilt, saß monatelang in der Todeszelle.
Dass er längst wieder begnadigt worden war, erfuhr er erst sehr viel später. Es ist sicherlich mit Worten kaum zu beschreiben (2),
was Baumann durchgemacht haben muss in dieser Zelle, welche Gedanken er täglich hatte, wenn die Wärter kamen, wie es dann weiterging,
in den letzten Kriegsjahren, die er u.a. in Torgau verbrachte. Es sei nur gesagt: Baumann überlebte den Krieg – sein Martyrium ging
jedoch weiter. Baumann wurde angefeindet, als Verräter gebrandmarkt – dabei tat er mit seinem "Verrat" genau den richtigen Schritt:
er verriet die Gewalt. Als durch die Wehrmachtsjustiz Verurteilter galt Baumann auch weiterhin als vorbestraft. Erst Jahrzehnte später
begann er, gegen diesen Zustand zu kämpfen. Er wurde in der Friedensbewegung aktiv, positionierte sich gegen den Krieg, wo er nur
konnte – und er engagierte sich, um eine Rehabilitierung der Deserteure aus dem 2. Weltkrieg zu erwirken. Mit Erfolg.
"Mehr als 60 Jahre mussten vergehen, bis nunmehr, im August 2009, auch die letzten Urteile der Wehrmachtjustiz gegen die
sogenannten Kriegsverräter aufgehoben worden sind. (…) Die Opfer dieser Blutgerichtsbarkeit, Tausende von Getöteten und Tausende
von Menschen, die mit schmachvollen Haftstrafen belegt worden waren, wurden auch in den sechs Jahrzehnten, die dem Kriegsende
folgten, weiter ins Unrecht gesetzt." (Kalmbach 2011, S. 11)
Gleichzeitig war es stets Anliegen Baumanns, aufzuklären, zu informieren, Jugendliche, Schüler soweit zu bilden, dass die
Gräuel der NS-Zeit niemals in Vergessenheit geraten und sich nie wiederholen. Sein Ausspruch "Die Erinnerung wachzuhalten
ist Aufgabe und Verpflichtung aller lebenden und künftigen Generationen." (Baumann 2012, S. 11) erinnert dabei in gewisser
Weise an den Anders'schen Ausspruch "Es ist gewesen und ist deshalb auch heute noch" (zit. n. Liessmann 1998, S. 33).
Baumanns Engagement endet weder zeitlich noch thematisch mit der Kapitulation der Nationalsozialisten. Auch die heutige Welt
kann ihm nicht gefallen. Weiterhin existieren Kriege, Ausbeutung, Tod und Leid. Und: "wir Deutschen", wir machen wieder mit.
Baumann schreibt dazu:
"Mich macht das fassungslos, wie wir mit unserer Geschichte umgehen. Wir in diesem reichen Land, von keinem bedroht, mit
unserer Geschichte, sind zu gewaltfreiem Handeln aufgerufen, uns für Gerechtigkeit, für das Leben und für den Frieden
einzusetzen." (Baumann 2011, S.336)
Gewaltfreies Handeln – das ist Baumanns Stichwort. Gewalt nicht mitmachen, Gewalt verraten. Eher: Gewalt gegen die eigene
Person hinnehmen, als selbst zum Gewalttäter werden.
Schlussfolgerungen
Ganz grundsätzlich gilt es selbstverständlich stets, festzuhalten, dass die Art und Weise, in der Gewalt ausgeübt wird,
nicht gleichgültig ist. Ihre "Korrektheit" ist nicht (allein) an der Größe des "Schadens" für den Gegner zu messen.
Es macht einen Unterschied, ob eine Gruppe, die beispielsweise mit dem Bau eines Atomkraftwerkes nicht einverstanden ist,
die Zufahrt zum Baugelände blockiert, damit die Baufahrzeuge nicht hinein können, oder ob sie den Firmenwagen des Chefs der
Baufirma in Brand setzt. Möglicherweise wären die Kosten für die Firma in beiden Fällen sogar gleich hoch – die Bewertung der
Vorgänge fällt jedoch durchaus nicht identisch aus.
Doch auch darüber hinaus gibt es zwei Punkte, die festgehalten werden müssen:
Punkt 1
Es ist eine schwierige Gradwanderung: Einerseits soll auf keinen Fall einer kapitalistischen "Erfolgs-"Denke das Wort geredet
werden. Sich am Machbaren, am Erfolg, an den Erfolgsaussichten einer Sache zu orientieren, ist falsch und affirmativ (auch Anders
schreibt derartiges an irgendeiner Stelle, die ich in der Kürze der Zeit nicht finden konnte und die deshalb sinngemäß von mir aus
dem Gedächtnis zitiert wird: Man hat sich nicht daran zu orientieren was möglich, sondern daran, was notwendig ist.).
Diese Erkenntnis macht jedoch nicht zwangsläufig alle Handlungen "richtig" und sinnvoll, die in ihrem Ziel gewiss scheitern werden.
Nebenbemerkung:
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Günther Anders selbst dieses "Erfolgskriterium" in einem seiner Text erwähnt. Dort
klingt er, allerdings auch etwa anderthalb Jahrzehnte vor der o.g. Gewalt-Debatte, zudem deutlich versöhnlicher dem gewaltfreien
Widerstand gegenüber: (3)
"Haben wir wirklich das Recht dazu, die sich in folgenlosen "happenings" manifestierenden Proteste gegen die amerikanische
Aggression in Vietnam und jene Aktionen, die wie Aktionen nur aussehen, der jüngeren Generation übelzunehmen, und diese als
"unernst" abzutun? Welch ein Hochmut! Berechtigt zu dieser Kritik wären wir allein dann, wenn wir nachweisen könnten, daß
wir Erwachsenen durch unsere Aktionen (...) die Kriegführung der Aggressoren und die Sicherheit der vietnamesischen
Bevölkerung und die Attitüde der Mehrheit der Menschheit den Vietnamgeschehnissen gegenüber irgendwie beeinflussen." (Anders 1969, S.25)
Aber zurück zum "Erfolgskriterium".
Ende 2010 begann im Norden Afrikas eine Revolution, die in vielen Ländern Auswirkungen hatte: der sogenannte "Arabischer Frühling".
Ausgangspunkt waren dabei Aufstände in Tunesien (nach der Nationalblume Tunesiens auch "Jasminrevolution" genannt). Im Rahmen dieser
Aufstände wurden Herrscher gestürzt, Diktaturen "beseitigt", Machthaber, um die Anders'sche Wortwahl zu benutzen, "ineffektiv"
gemacht. Und zwar: mit Gewalt. Also doch ein gangbarer Weg?
Nicht vergessen werden darf, dass dies jedoch zumeist in Diktaturen, mindestens: in diktaturähnlichen Zuständen stattfand,
wirksam und fruchtbar war.
Eine Demokratie hingegen, selbst eine, die durch die Beeinflussung durch die Massenmedien diesen Namen nicht mehr so recht
verdient, sorgt stets für eine strukturelle Unmöglichkeit des Erfolgs einer Gewaltanwendung durch Gegner der Regierenden.
Denn wer die Volksvertreter angreift, der greift per definitionem auch das Volk an – und darf mit dementsprechend
wenig Unterstützung und dementsprechend viel Widerstand rechnen.
Es ist somit ein Unterschied, ob vielleicht in einer Diktatur ein gewaltsamer Aufstand für wenig erfolgversprechend
gehalten wird – denn er ist es dort "nur" aufgrund beispielsweise der militärischen Überlegenheit der Regierenden,
oder ob man ein derartiges Wirken in einer Demokratie für wenig erfolgversprechend hält, wo jeder Angriff auf
Politiker auch zugleich Angriff auf das Volk ist. In einem stimmen Volk und Politik nämlich grundsätzlich überein:
Beides sind Gruppen, "die in der allgemeinen Euphorie über den neuen Fortschritt das Falsche für das richtige
Leben zu halten" pflegen (Liessmann 1998, S. 37). (4)
Somit ist das Erfolgs-Kriterium zu erweitern: Ist eine Gewaltaktion nur zeitweilig schwer möglich, prinzipiell
jedoch schon (wie in einer Diktatur), oder ist sie strukturell unmöglich, wie in einer Demokratie, wo sie zudem
noch, man denke nur an den Deutschen Herbst, die staatliche, die legitimierte Gewalt verschlimmert und stärkt?
Punkt 2
Aber ganz abgesehen von jeglichem Erfolgskriterium: Ist der Weg Ludwig Baumanns nicht generell, ist er nicht
immer der bessere Weg?
Gewalt nicht mitmachen, Gewalt verraten. Eher: Gewalt gegen die eigene Person hinnehmen, als selbst zum Gewalttäter
werden – so hatten wir es oben formuliert. Aber: Wer Gewalt nicht mitmachen will, der darf nicht einfach nur auf aktiven,
gewaltsamen Widerstand verzichten. Denn wer dies tut, wer vielleicht nur "friedlich" demonstriert und protestiert, der macht
ja sehr wohl Gewalt mit: er unterstützt, mindestens: er ermöglicht die Taten derer, die unsere Zukunft bedrohen, und wird
damit selbst zum Gewalttäter gegen die Zukunft. Gewalt vermeiden, die Gewalt verraten hieße somit: gar nicht
mitmachen, völlig aussteigen aus jeder Form von Gewalt.
Die Alternative darf nicht die sein, entweder direkte Gewalt gegen den die Zukunft bedrohenden Gegner auszuüben oder
als stillschweigender Mittäter mit jenen Personen die Zukunft zu bedrohen, sondern: ausbrechen aus dem Gewaltzirkel –
auch um den Preis, dass man dann eventuell selbst zur Zielscheibe wird, wie wir es bei Ludwig Baumann gesehen haben.
"Jeder Mensch in den Industrieländern ist mehr oder weniger für Gewalt verantwortlich, es gibt keine Freiheit von Gewalt,
nur Verantwortung für sie. Die bei uns vorkommende Gewalt ist nur in Einzelfällen eine physische, immer jedoch die strukturelle,
deren Auswirkungen nicht wir, aber die "restlichen" zwei Drittel der Weltbevölkerung zu spüren bekommen: Hunger, Not, Krieg (…)."
(Wittulski 1992, S. 44)
Diese Art von Gewalt gegen die genannten zwei Drittel der Weltbevölkerung übt auch derjenige aus, der in Form von Happenings meint,
gewaltfrei zu protestieren. Die Alternative wie gesagt somit nicht eine noch explizitere Gewaltanwendung, wie von Anders vorgeschlagen,
sondern eine völlige Abkehr von jeder Gewalt, ob nun persönlich/physisch oder strukturell, die, um das eigentlich ausgelutschte
Marx-Zitat noch benutzen, dafür sorgt, dass "der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches
Wesen ist." (MEW1, S. 385)
Ausblick
Gewiss, die in diesem Text angestellten Überlegungen können nur ein erstes Andenken einer Thematik sein, die einer viel tiefgehenderen
Beschäftigung bedarf. Besonders Vorschläge, was die erarbeiteten Schlussfolgerungen denn konkret für die tägliche Praxis bedeuten,
müssten erdacht werden. Auch die Frage, in welchen Strukturen man denn dann zusammenleben möchte, ohne Staatsgewalt, ohne Polizei,
ohne Ordnung (?) – all das ist ungeklärt. Ein leichtes Unterfangen ist dies alles sicherlich nicht.
Leicht machen es sich hingegen jene Anders-Kritiker, die die Überlegungen des Essayisten abtun, vorschnell verteufeln, ihn als
"Terroristen" abstempeln oder ihm Verwirrtheit unterstellen.
Obwohl ich hier eine Gegenposition einnehmen wollte, war es mir somit ein Anliegen, eines zu tun: ihn mit seinen Überlegungen ernst
nehmen, ohne dabei jedoch seine Ergebnisse zu teilen, und aus ihren Hintergründen und Begründungen andere Schlüsse folgen lassen.
So bleibt mir für heute nur die unkonkrete Aufforderung an alle Leser: Verratet die Gewalt. Wir können nichts besseres tun, als die
Gewalt zu verraten.
Anmerkungen
(1) Dass auch Atom-Kraftwerke, nicht nur Atom-Bomben, immer eine Bedrohung und nie sicher sind, darauf besteht Anders: Die
Gefährlichkeit ist unbestreitbar; und die Behauptung, daß, wenn man Schraube 3A vielleicht etwas verdicke, die absolute
Sicherheit schon gewährleistet sei, ist ebenso läppisch wie gewissenlos. Immer und überall gibt es zahllose mögliche Defekte.
(Bissinger 1987b, S. 26)
(2) Über die Unmöglichkeit, gewisse Dinge in Worte zu fassen, schreibt auch Anders: So wenig wie es uns möglich ist, mit
dem abgeschossenen, noch so genau hinzielenden Pfeil den Mond zu treffen, weil der zu weit entfernt ist; so wenig ist es uns
möglich, mit Hilfe unserer Wörter, auch der scheinbar "treffendsten", unsere Produkte und deren Effekte zu treffen. Weil diese
zu groß sind. (zit. n. Dries 2009, S. 85) Dies gilt nicht nur für Produkte und deren Effekte, sondern gewiss auch für so
einige Erlebnisse.
(3) Bereits noch früher, nämlich 1962, hatte Anders im Rahmen der Verleihung des "Premio Omegna" ausgesagt, man müsse der
Bedrohung der Zukunft in der Form eines Streiks entgegentreten, indem man die Produkte, die uns bedrohen, einfach nicht mehr
herstellt. Freilich ist das ein ganz neuer Typ von Streik, den wir da erfinden müßten. Denn bei diesem Streik (…) würde es
nicht um höheren Lohn gehen, nicht um bessere Arbeitsbedingungen, nicht um Vergesellschaftung der Produktionsmittel (...). Sondern
hier ginge es (...) um die Verhinderung der Produktion bestimmter Produkte. (…) durch ihn würden wir uns selbst den Beweis erbringen,
daß wir es wieder begriffen haben, daß "Arbeiten" "Handeln" ist; und daß wir es abweisen, unter dem Deckmantel des Wortes "Arbeit"
unmoralische Handlungen mitzuverantworten, die wir, wären die Handlungen unkostümiert, niemals bejahen oder mitmachen würden.
(Anders 1962, S. 8)
(4) Liessmann spricht in seinem Text nicht von "Gruppen", sondern von der "Zeit", die diese Sicht annimmt. Von daher ist dieses
Zitat hier etwas zweckentfremdet, aber nicht über Gebühr verdreht.
Verwendete Literatur
Günther Anders
Résistance heute. In: Das Argument 27, Massenmedien und Manipulation (II). 5. Jahrgang 1962, S. 2-8.
Imperialismus und Kampf dagegen oder Philosophisches Wörterbuch heute (II). In: Das Argument 51, Zur Politischen
Ökonomie des gegenwärtigen Imperialismus. Probleme der Entwicklungsländer (IV). 10. Jahrgang 1969, S. 1-31
Ludwig Baumann
Ein Kampf um Würde. Die Bundesvereinigung "Opfer der NS-Militärjustiz". In: Perels und Wette 2011, S. 325-336.
Manfred Bissinger
Zur Person: Der Philosoph Günther Anders. In: Manfred Bissinger (Hrsg.): Günther Anders, Gewalt – ja oder nein.
Eine notwendige Diskussion. München : Knaur, 1987
Das Gespräch: Von "Notstand und Notwehr". In: Manfred Bissinger (Hrsg.): Günther Anders, Gewalt – ja oder nein.
Eine notwendige Diskussion. München : Knaur, 1987
Christian Dries
Günther Anders. Reihe: UTB Profile. Paderborn : Wilhelm Fink Verlag, 2009
Ulrich Herrmann
Zwei junge Soldaten als Opfer der Wehrmachtsjustiz. In: Ulrich Herrmann (Hrsg.): Junge Soldaten im zweiten Weltkrieg:
Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen. Weinheim und München : Juventa-Verlag, 2010.
Peter Kalmbach
Wehrmachtjustiz: Militärgerichtsbarkeit und totaler Krieg. Berlin : Metropol, 2011
Konrad Paul Liessmann
Hot Potatoes. Zum Briefwechsel zwischen Günther Anders und Theodor W. Adorno. In: Gerhard Schweppenhäuser. Zeitschrift
für kritische Theorie. 4. Jahrgang. 6/1998. Lüneburg : zu Klampen Verlag, 1998. S. 29-38.
Karl Marx
Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW Bd. 1, Berlin : Dietz Verlag, 1972. S. 378-391
Joachim Perels (Hrsg.) ; Wolfram Wette (Hrsg.)
Mit reinem Gewissen: Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer. Berlin : Aufbau-Verlag, 2011
Wolfram Wette (Hrsg.) ; Detlef Vogel (Hrsg.)
Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat. Berlin : Aufbau Verlagsgruppe, 2007.
Eckhard Wittulski
Moral bricht Legalität. In: Text + Kritik 115. Günther Anders. München : edition text + kritik GmbH, 1992.
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