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litera[r]t
[heft 5] [märz 2012] wien - st. wolfgang
Der Wunsch nach einem unbekannten Dritten
Raimund Bahr zum 50. Geburtstag
Stefan Broniowski
Raimund Bahr, der damals noch Raimund Kremlicka hieß, und ich begegneten einander zum ersten Mal Ende der 80er Jahre,
als er an der Universität Wien Geschichte studierte und ich Philosophie. Aber nicht Fachliches brachte uns zusammen,
sondern Studentenpolitisches. Im Einführungstutoriumsprojekt, in dem wir beide engagiert waren, wurde damals gerade ein
von Studierenden der TU Wien angezettelter Konflikt darüber ausgetragen, ob das bisher festgeschriebene Konsensprinzip
(also die Einstimmigkeit aller Entscheidungen) aufgegeben werden und durch das bequemere und "effizientere" Mehrheitsprinzip
abgelöst werden solle oder ob alles beim Alten bleiben dürfe. Bei einem bundesweiten Treffen sollte die Sache entschieden werden.
Bei dieser Gelegenheit erlebte ich Raimund und die Besonderheit seiner Denkweise zum ersten Mal. Als in der Diskussion die Reihe an
ihm war, sich pro oder kontra Konsensprinzip zu äußern, tat er etwas Überraschendes und Ungewöhnliches, er sagte, weder Konsens noch
Majoritätsbeschluss seien die Lösung, es müsse etwas Drittes gefunden werden, er wisse aber auch nicht, was das sein solle.
Damals war ich entsetzt. Ich war ein überzeugter Anhänger und Verteidiger der Einstimmigkeit und hatte auch Raimund, wie eigentlich fast
alle Nicht-TU-ler, für einen solchen gehalten. Seine verblüffende und wohl von niemandem so recht verstandene Äußerung musste mir also als
"Umfaller" erscheinen. (Zum Glück hielt der Schaden in der Sache sich dann in Grenzen.) Rückblickend aber scheint mir das, was Raimund sagte
und wollte, charakteristisch, ja typisch für ihn: Es ging ihm, behaupte ich, immer wieder um den Wunsch nach einem Dritten, von dem er
selber noch nicht weiß, worin es besteht.
Später hatten Raimund und ich eigentlich nur noch am Rande miteinander zu tun, verloren einander aber dann mehr oder minder aus den Augen,
nach Jahren traf man sich wieder, kam ins Gespräch, Raimund hatte Günther Anders für sich entdeckt, auch ich hatte, wie so viele, Anders
gelesen, Raimund lud mich zu Veranstaltungen ein, wieder kamen dann ein paar Jahre dazwischen, wieder begegnete man sich wieder, es kam
zu neuen Veranstaltungseinladungen. Am Ende sind dabei unter anderem drei Texte von mir herausgekommen, die sich auch irgendwie mit Günther
Anders beschäftigen und die ich ohne Raimunds Einladungen sicher nicht verfasst hätte. Nicht zuletzt sind auch einige interessante
Begegnungen mit Leuten, die auch etwas zu Anders zu sagen haben, so zu Stande gekommen. Für seine Bereitschaft, andere in seine
Arbeitszusammenhänge einzubeziehen, Menschen zusammenzubringen und Öffentlichkeit zu organisieren, habe ich Raimund stets respektiert
und bewundert.
Bei den erwähnten Veranstaltungen also, zu denen er mich einlud, und an deren Rändern lernte ich Raimund immer wieder ein bisschen
besser kennen. Und wenn ich die Eindrücke, die ich vom Verleger, Veranstaltungsorganisator, Herausgeber, Blogger, Lokalpolitiker,
Historiker, Lyriker, Bundespräsidentschaftskandidaten, Alleinunterhalter usw. usf. teils nach seiner Selbstdarstellung, teils nach
dem, was ich an Ergebnissen wahrnahm, auf einen einzelnen Punkt bringen müsste (was ich zum Glück nicht muss, hier aber will), so
wäre es, man ahnt es schon, der oben erwähnt Wunsch nach einem ungegebenen Dritten. Raimund Bahrs Arbeitsdevise scheint mir zu lauten:
Weder Entweder noch Oder, sondern — ja was?
Man nehme nur zuletzt vielleicht wichtigste Veröffentlichung, auf die er viele Jahre hinarbeitete: "Günther Anders. Leben und Denken
im Wort", die weder den konventionellen Regeln akademische Diszipliniertheit entspricht noch einen rein persönlichen Zugang sucht,
sondern, nachdem sie das eine wie das andere offenkundig verworfen hat, ein Drittes sein will, von dem man allerdings als Leser
nie so recht weiß, was es denn sein soll. Der Autor weiß es wohl auch nicht. Das macht, bei aller möglichen und notwendigen Kritik,
nicht unbedingt ein schlechtes Buch daraus, zeigt aber die Schwierigkeit auf, die sich aus dem Wunsch nach dem unbekannten Dritten ergeben.
Falsch gestellten Alternativen kann und soll man sich entziehen, was aber, wenn die Alternative mehr oder minder alternativlos ist?
Was, wenn man zwar weder das eine noch das andere Ziel anstrebt, aber auch ein drittes nicht erreicht?
Man mag es negativ beurteilen und behaupten, dass Vieles, was Raimund Bahr bisher der Öffentlichkeit vorgelegt hat,
nicht Fisch, nicht Fleisch ist (und auch kein exotisches Gemüse), oder man mag es positiv sehen und in dieser
entschiedenen Unentschiedenheit gerade die faszinierende Dynamik eines umtriebigen Schaffensdranges erkennen wollen —
so oder so, scheint mir, geht es um die sympathische Weigerung, überlaufene Trampelpfade weiterzugehen oder sich gar in
dieses oder jenes vorfabrizierte "Kastl" einsperren zu lassen.
Die erfrischende Unruhe, die ich von Raimund immer ausgehen gespürt habe, diese bei aller zuweilen auch auftretenden Genügsamkeit
und Selbstbewunderung doch immer stark hervortretende Unzufriedenheit mit dem Bisherigen, wünsche ich ihm auch weiterhin. Möge sie
ihn und alle, die ihm begegnen, auch in Zukunft vorantreiben. Hierhin oder dorthin oder zu einem noch völlig unvorhersehbaren Dritten.
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