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[heft 4] [dezember 2011] wien - st. wolfgang



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Flimmerhärchen
Christine Hartmann

Eigentlich wollte ich nur fachmännisch das Ohrenschmalz aus meinem linken Ohr entfernen lassen. Vor Jahren hatte mir mein über alles geschätzter Ohrenarzt das erste und letzte Mal die Ohren ausgeputzt und nach einem Hörtest sehr sensibel mitgeteilt, dass ich mich wohl mit einer kleinen Höreinschränkung, die sich speziell auf die hohen Töne beziehen würde, zu arrangieren hätte, und er fügte als Hinweise, wie ich mein Hörvermögen weiterhin unterstützen könnte an, ich möge mich viel bewegen, gesund essen, nicht rauchen und guten Sex haben. Zudem empfahl er mir, Lippenlesen zu lernen. Das mit dem Sex verwunderte mich ein wenig, aber kurzes Querdenken ließ mich die Verbindung von kraftvoller Ganzkörperdurchblutung und der Lebendigkeit der Flimmerhärchen im Innenohr erkennen.

Leider musste ich in der Praxis meines wie gesagt speziell auch für seine realitätstauglichen medizinischen Empfehlungen höchst geschätzten Ohrenarztes feststellen, dass er von mir unbemerkt seinen Ruhestand angetreten hatte und die medizinischen Daten meiner Ohren mitsamt der Praxis von einem Jungmediziner übernommen worden waren. Dieser entfernte zunächst fachmännisch das Cerumenpfröpfchen aus meinem linken Ohr, um danach mit dem Blick auf die Aufzeichnungen seines Praxisvorgängers, die allerdings mittlerweile offensichtlich ihren Weg vom Papier in das Computersystem gefunden hatten, festzustellen, dass mein letzter Hörtest doch schon einige Jahre zurückläge und ein erneuter angebracht sei. Ich schaute um mich und bemerkte, dass die Praxis nicht nur mit Computer, sondern auch mit Mobiliar und weiteren technischen Geräten aufgerüstet worden war, dachte mir: Naja, ein untersuchungsmäßiger Beitrag zur Praxisfinanzierung ist eigentlich in Ordnung, und stimmte zu.

Die Folgen hatte ich jedoch nicht bedacht, wie könnte ich auch.
Nachdem also die Assistentin mich in eine Kabine begleitet hatte, mich mit Kopfhörer und den anderen für einen Hörtest benötigten Zubehör ausgestattet und mich durch die Zeremonie des Hörens von unterschiedlichen Frequenzen und Lautstärken sowohl von links als auch von rechts dirigiert hatte, fand ich mich face to face mit dem Arzt wieder. Er warf neuerlich einen Blick auf seinen Bildschirm und eröffnete mir: "Sie haben eine progressive genetisch bedingte Schwerhörigkeit." In Situationen, die als Katastrophen verstanden werden könnten, rette ich mich in den Galgenhumor. Immer. Meine unmittelbare Reaktion war also: "Deshalb hat ihr Kollege mir empfohlen, Lippenlesen zu lernen". Höchst seriös kam zurück: "Das empfehlen wir heutzutage nicht mehr, wir empfehlen ein Hörgerät. Möglichst früh, damit die Teilhabe an der Gesellschaft nicht beeinträchtigt wird." Diese im Plural der Ohrenärztegemeinschaft gesprochenen Sätze bewirkten, dass ich dachte: Jetzt wird’s ernst, und ich versuchte noch einmal, die Katastrophe aufzuhalten: "Das sagen sie nur, weil ich ihnen erzählt habe, dass mein Vater schwerhörig ist." "Nein, das sage ich, weil ihre Hörkurve das zeigt".

Ich ging nach Hause, was blieb mir anderes übrig, legte mich ins Bett und heulte. Progressiv hieß, es wird stetig schlimmer, und genetisch bedeutete, dass nichts dagegen zu machen ist. Ich bin auf genauestes Hören angewiesen um mein Brot zu verdienen, und ertaubt wäre ich dazu nicht imstande. Ich lag im Bett und heulte. Meine Zukunft war schlierig dunkelgrau und vor allem absolut still. Ohne Vogelgezwitscher, ohne gehörte Wörter und Sätze, die nicht nur Inhalte sondern auch Gefühle und Stimmungen mit sich führen, ohne Töne, ohne Klänge. Vielleicht scheint das jetzt sehr dramatisiert, aber ich habe als Kind wie andere Kinder auch wie eine Fledermaus gehört und jetzt konnte dieses Fledermausgehör, naja, dieses mittlerweile leicht abgeschwächte Fledermausgehör bereits morgen ein für alle Mal von der Vergangenheit verschluckt worden sein.

Progressive genetisch bedingte Schwerhörigkeit! Ich verkroch mich tiefer unter die Bettdecke und heulte weiter. Als ich wieder aus dem Bett heraus fand, war es, weil ich hungrig war, und auch, weil ich überprüfen wollte, ob ich wohl die Kochgeräusche hören würde, das Lied des Messers beim Gemüseschneiden, das leise Klappern des Deckels, das anzeigt, dass der Reis kocht, das Prusten der Espressokanne, ob ich das wohl auch heute noch hören könnte. Progressive genetisch bedingte Schwerhörigkeit! Alles unwiederbringlich dahin!

Beim Espresso fiel mir allerdings wieder ein, dass und wie mein Vater, der der genetisch zuständige Elternteil für dieses Thema sein dürfte, hört: Nämlich alles, was für ihn Bedeutung hat, und das seiner Meinung nach Unwesentliche überhört er großzügig. Mir fiel wieder ein, dass er mit seinem Hörgerät spitzenmäßig hört und er seine neugierige Nase, die ich auch geerbt habe, wobei ich mich da jetzt auf die Nasenform beziehe, immer wieder auch wenig erwünscht in alles hineinsteckt. Akustisch gesehen ist mein Vater mittendrin im Leben, und er ist in den Achzigern.

Wenn meine Gene sich also ähnlich verhalten sollten wie die meines Vaters, speziell was meine Flimmerhärchen betrifft, schaut meine Zukunft weit weniger trostlos aus als befürchtet. Trotzdem war es wieder an der Zeit, eine weitere Heul- und Schluchzsequenz einzulegen, und zwar spontan während eines Telefongesprächs mit einer Freundin. Nun ist diese Freundin ohnehin recht pragmatisch veranlagt, und speziell auf Heulen und Zähneknirschen reagiert sie ungerührt und unerschrocken, was wohl ihrem Berufsleben geschuldet sein könnte, mit einer zugegebenerweise meist passenden Bemerkung, die der jeweiligen Verzweiflung ein Ende setzt. In diesem Falle war es der Hinweis auf die Möglichkeit, im Landeszentrum für Hörgeschädigte Hörgeräte ausprobieren zu können.

Zum Ausprobieren bin ich nicht gekommen, zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht. Hingegangen ins LZH bin ich natürlich. Und weggegangen mit Frohlocken. Diese Untersuchung meiner Hörgrenzen brachte nämlich das erstaunliche Ergebnis, dass ich dafür, um aus der Verwendung eines Hörgerätes Nutzen ziehen zu können, eindeutig und wesentlich zu gut hörte.

Das alles liegt schon einige Jahre zurück, nicht so lange her ist jedoch, dass mir auffiel, den leisen Dialogen im Kino nicht mehr folgen zu können. Ich ärgerte mich zunehmend über undeutlich Gesprochenes, über Räume mit schlechter Akustik, über nuschelnde Zeitgenossen. Ich ertappte mich beim kontinuierlichen Blickkontakt mit Lippen – das Lippenlesenlernen begann sich auszuzahlen -, und hohe Stimmlagen waren mir mittlerweile ein Gräuel. Ein neuerlicher Besuch im LZH zu einem dieser ausführlichen Hörtests, bei denen über Lautstärken und Frequenzen hinaus auch die Verstehbarkeit von Wörtern und Lautverbindungen überprüft wird, bestätigte, was ich diesmal schon wusste: Ich höre schlechter. Allerdings hatte das Wort progressiv über die Jahre seinen Schrecken verloren und die Gene, die mir mein Vater vererbt hat, lassen ihn immer noch ziemlich mittig im Leben stehen. Bei diesem Hörtest schreckte mich allerdings etwas Anderes auf: Eines der Wörter, von denen ich nur einen verstümmelten Laut verstanden hatte, fragte ich nach. Ust hatte ich gehört, Lust hätte ich hören sollen. Wie kann ich mitten im Leben stehen, wenn ich das Wort Lust nicht höre und somit auch nicht verstehe!

Jetzt war wirklich der Zeitpunkt für ein Hörgerät gekommen. Schon die Aussicht darauf versetzte mich in ein Hochgefühl, das mir andererseits auch zeigte, wie mühsam es doch war, Halbgehörtes in Verstandenes zu verwandeln. Das Gehirn startet ja sofort mit der Interpretation der Töne, Geräusche, Laute und der Suche nach dem Sinn, wenn er sich nicht unmittelbar erschließt, allerdings mit einer recht geringen Wahrscheinlichkeit, nicht nur Sinnvolles sondern für die jeweilige Gesprächssituation auch Nützliches und Passendes zu finden. Witze und Kalauer über diese Unterhaltungen, die parallel und völlig unverbunden nebeneinander her verlaufen, gibt es ja zur Genüge.

An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal hinter jedem Ohr ein Hörgerät, was sage ich, einen Hochleistungsminicomputer sitzen hatte, stellte ich fest, dass diese Welt unglaublich laut ist. Die Vögel schrien mich an, Autos, Züge und sonstiges Mobilgetier fraßen mir fast alle Hörreste weg, und mein Gehirn war nahezu ausschließlich damit beschäftigt, Relevantes von Nebensächlichem zu trennen, um eben das Unwichtige wieder etwas in den Hintergrund meines Hörerlebens treten zu lassen. Aber nicht nur die Welt außerhalb meines Körpers war laut, ich hörte auch intensive irritierende Körpergeräusche. Ich hörte, wie meine Zunge beim Sprechen gegen die Zähne stieß, ich hörte das Grummeln meines Magens, ich hörte meinen Arm in den Jackenärmel gleiten, ich hörte mir beim Schlucken zu.

Das war alles sehr gewöhnungsbedürftig. An diesem Tag war ich dermaßen mit Hören überfordert, dass es mir gelang, am Bahnhof in Lindau in den falschen Zug zu steigen, statt nach Bregenz fuhr ich Richtung München, der nächste Halt war erst in Memmingen vorgesehen und bis dahin musste ich an Bord bleiben. Die ungeplante Reise war beileibe nicht billig, dem Schaffner war die ganze Sache unangenehmer als mir, und er war erst einigermaßen beruhigt, als er merkte, dass mich mein Missgeschick zum Lachen brachte, hatte ich mich doch in meiner Kindheit als Fahrschülerin das letzte Mal verfahren. Meine einzige Sorge war, es könnte in Memmingen keinen Lesestoff für die Rückfahrt zu besorgen geben, mein Buchstabenfutter würde nämlich nur hin, nicht aber nach Bregenz zurück reichen. Diese Sorge löste sich auf, am Bahnhof Memmingen finden sich nicht nur die allgegenwärtigen Ess- und Trinkwarenangebote, sondern auch ein überraschend gut sortierter Zeitschriften- und Bücherkiosk, und ich war rechtzeitig für meinen nächsten Termin wieder zuhause.

Am nächsten Tag jedoch stellte ich mit Erstaunen und hocherfreut fest, dass mein Gehirn einige schon kaum mehr angesprochene Synapsenverbindungen wieder aktiviert haben musste. Auch ohne die beiden Hörlieblinge hinterm Ohr schoben sich Töne und Geräusche in mein Bewusstsein, die von mir nicht bemerkt schon verloren gegangen waren und jetzt, nach diesem hörüberfordernden Tag von meinem Gehirn wieder als relevant eingestuft wurden und deshalb zugänglich waren.
Dass mit den Hörgeräten ein Lernprozess ausgelöst wird, der sich einerseits an bereits bekannte Interpretationsleistungen anlehnt, jedoch alte Nervenverbindungen wieder aufweckt, in Betrieb nimmt und neue dazu baut, hat mich unvorbereitet angetroffen, hatte ich doch vorher nie darüber nachgedacht, dass und wie die Sinneseindrücke im Gehirn verschaltet, interpretiert oder überhaupt erst verstehbar gemacht werden.

Genauso unerwartet sind für mich die Geständnisse von Freunden, Freundinnen und Bekannten, die auf meine Geschichten zum Leben mit Hörlieblingen hinterm Ohr reagieren, indem sie ihre vermutete, nicht überprüfte aber doch wahrgenommene Einschränkung ihres eigenen Hörenkönnens und Hörenwollens ansprechen. Und, nur um keine Vorurteile aufkommen zu lassen, das sind alles beileibe keine alten Leute, ganz im Gegenteil!

Ich jedenfalls hab jetzt die Wahl, wirklich gut zu hören, nahezu fledermausig gut, inklusive der hohen Stimmen und unter schlechten akustischen Bedingungen, oder eben meinem Vater nacheifernd das Geplärr, wie es Trude Marzik genannt hat, außen vor zu lassen.

Sollte ich ihnen begegnen und nicht auf ihre Worte reagieren, dann wissen sie jetzt, dass ich einen leisen Tag zelebriere und meine Hörlieblinge nicht trage. An so einem Tag müssen sie sicherstellen, dass ich an ihren Lippen hängen kann, blicktechnisch und interessensmäßig gesprochen. Nach der realitätstauglichen medizinischen Empfehlung eines weisen Ohrenarztes übe ich mich nach wie vor im Lippenlesen. Nur so zum Spaß. Und aus Zuneigung zu meinen dahin schwindenden Flimmerhärchen.



hartmann, christine
christine hartmann im web

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