z
e
i
t
s
c
h
r
i
f
t
f
ü
r
l
i
t
e
r
a
t
u
r
|
litera[r]t
[heft 4] [dezember 2011] wien - st. wolfgang
kleingeschrieben
raimund bahr
ich arbeite gerne mit büchern und dem eigenen denken. keine langen exzerpte. einfach lesen und das gelesene in eigenen
worten wiedergeben. zu eigenen texten verarbeiten. zitate einfügen. montage von fremden texten und eigenem denken.
die inhalte von zehn artikeln auf drei seiten verdichten. einem buch ein kapitel widmen. keine kommentierten bibliographien.
einfach schreiben. viel schreiben. über andere. viel nachdenken. den gedanken auf langen spaziergängen nachhängen. argumente
mit anderen austauschen. fehler begehen. unsinn reden. das richtige argument vom falschen trennen. sich nächte um die ohren
schlagen weil ein problem nicht lösbar scheint. und dann wenn alles denken auf einen bestimmten punkt zustrebt: alles aufschreiben.
sich nicht darum kümmern wie es klingt. wie es schwingt. das ist die harte arbeit danach. das süße vergügen der wissenschaft besteht
ja im denken davor.
einen artikel über das verhältnis eines verlegers zu seinem autor gelesen: siegfried unseld
[verlagsleiter suhrkamp] und max frisch treffen sich neunzehnhunderteinundsiebzig in new york.
was folgt sind eine menge missverständnisse. es ist eine die darstellung aus der sicht des verlegers
über das zusammentreffen mit seinem schützling. die frage die darin thematisiert wird: was darf sich
ein autor gegenüber einem verleger leisten? wie sehr muss sich ein verleger von seinen autoren demütigen
lassen? wie weit darf das genie gehen? wie grenzen wir verleger uns von autoren ab? was lassen wir uns gefallen?
eigentlich sind wir ihnen ausgeliefert. wir sind auf ihre texte angewiesen. aber dennoch bleibt: wenn es mehr sein
soll als eine bloße arbeitsbeziehung dann muss jeder jedem ernsthaftigkeit und respekt entgegenbringen. ich kann siegfried
unseld gut verstehen.
der autor max frisch trifft in new york an seinem sechzigsten geburtstag auf seinen verleger
siegfried unseld und fühlt sich von diesem nicht genug gewürdigt. er ist zornig. er ist wütend. er selbst
in einer schwierigen lebenssituation. ich kann das nur zu gut verstehen dass wir autoren nicht genug gewürdigt
werden von unseren verlegern. ich selbst habe ähnliche erfahrungen gemacht. da schreibe ich mails und kriege nicht
mal eine antwort. da schicke ich ein manuskript an den lektor der es in den tiefen seines datenspeichers versenkt und nicht
mehr findet. manchmal fühle ich mich als autor auch im stich gelassen von den verlegern. der autor ist dem verleger auf gedeih
und verderb ausgeliefert. wird er von den verlagen nicht zur kenntnis genommen dann wird er nicht verlegt. wird er nicht verlegt
dann findet er keine leser. findet er keine leser dann ist sein schreiben vergeblich. ist sein schreiben vergeblich bleibt nichts
als die nackte existenz. und diese nackte existenz ist schwer zu ertragen. ich kann max frisch gut verstehen.
jean paul sartre schrieb über literatur folgendes: wenn die politik/literatur nicht alles ist ist sie nicht der mühe wert.
das will ich mit ‚engagement‘ sagen. sie vertrocknet umgehend wenn man sie auf die unschuld auf lieder reduziert.
wenn jeder niedergeschriebene satz nicht auf allen ebenen des menschen und der gesellschaft widerklingt bedeutet er nichts.
die politik/literatur einer epoche ist die durch ihre politik/literatur verdaute epoche. ersetze ich den begriff literatur
durch den der politik zeigt sich dass unserer von der politik verdauten epoche später kein gutes zeugnis ausgestellt werden wird.
einen roman über das individuum zu schreiben erscheint mir zusehends aussichtslos.
gedichte schreiben scheint mir ein ausweg. ein gedicht ist auch nur ein fragment. am besten wären
allerdings notizen. zu schrift erstarrte beobachtungen die nichts weiter sein wollen als fetzen einer existenz.
im individuellen ebenso wie im gesellschaftlichen. nichts kann die zerstückelung besser beschreiben als das stückwerk.
was mir also als einziges übrigbleibt ist alles was ich sehe was mir begegnet in meinem journal festzuhalten.
stellt euch vor: es wäre ein winter ohne schnee. alle gemeinden und städte hätten beschlossen ihre adventmärkte abzusagen.
es gäbe in den schaufenstern keine engel und keine weihnachtsmänner und kein buntfoliertes geschenkpapier. und die
christbaumverkäufer wären alle in die karibik auf urlaub gefahren. woran würdet ihr dennoch erkennen dass weihnachten naht:
an last christmas. aus allen radiokanälen schallt wham in die vorweihnachtstage und die heiligen adventnächte. und kaum habe
ich die ersten drei takte vernommen bin ich wieder gefangen in den last christmases meiner kindheit. in den schönen und den
grausamen. und die weihnachtsmärkte in meinem kopf sind wieder hell erleuchtet. überall liegt schnee. tannenbäume duften. das
zimmer ist warm. die vorfreude rieselt über meinen rücken. und ich bin wieder das kind das ich einmal war.
|
|