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[heft 4] [dezember 2011] wien - st. wolfgang



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Von der Kunst zu leben II
Armin Anders im Gespräch mit Raimund Bahr | 17. Mai 2002 | Wien


Raimund Bahr
Was ist dein Verhältnis zur Natur? Wie hast du Natur erlebt in deiner Kindheit?
Armin Anders
In der Kindheit hatte die Natur immer etwas Beruhigendes, wenn ich mich erinnere, denn sie war immer da und immer still und störte nicht. Das hat sicher damit zu tun, man war abseits der Eltern, man war abseits der Beaufsichtigung, man war abseits aller Bevormundung. Man ist auf den Fußballplatz gegangen oder nicht, weil da haben die "Großen" Fußball gespielt. Dann ist man halt auf den Nebenschauplatz gegangen, die Gstetten, davon hat es mehrere gegeben. Die Natur war Freiheit. Von der Stadt aus waren die meisten brauchbaren Orte in zehn Minuten zu erreichen. Das waren echte Freiräume - abseits der Autorität, ob jetzt Eltern oder Schule oder was auch immer. Und so ist für ein Kind die Welt draußen -, die noch kaum vom Innen unterschieden wird - ein Spielplatz mehr oder weniger. Die Straße war es nicht, "vor der Straße mußte man sich fürchten"; ich hatte als Kind auch einmal einen Unfall. Ein Auto stieß mich nieder, an das kann ich mich genau erinnern, da war ich etwa acht Jahre alt - die Schuld wurde dabei übrigens alleine mir gegeben. Die Natur war also der Freiraum, aber wenn man erwachsener wird, da ist man auch schon bald satt an der Natur. Mit achtzehn habe ich das dann nicht mehr gebraucht. Da überkommt einen dann die Natur des Begehrens. Ein anderes, ein nächstes Unglück.

Die Frau als Ressource?
Die Frauen sind die Naturalien, mit denen man es dann zu tun hat, aber die sind ja schon bald auch nicht mehr der Freiraum, den man sich naiv ersehnt hat und von den man noch eine geraume Zeitspanne träumt, bevor auch diese Romantik den Weg allen Irdischen geht.

Und was bedeutet Familie für dich?
Vorne weg gesagt, wie könnte es anders sein: einmal ein Unglück, weil das alles mit der Natur und der Naturwüchsigkeit zu tun hat. Und was ich nach wie vor als das Unglück betrachte ist diese Naturwüchsigkeit und ihre Fortsetzung in den Menschen hinein und in die menschliche Kultur. Obwohl das Denken eigentlich wieder die Natur ist, weil das gibt es nicht in der Natur, was uns wieder die Natur setzt, ich meine nicht über, das wäre ein Mißverständnis, aber es setzt uns gegen die Natur. Wir sind außen, vor - oder hinter - der Natur. Das bestimmt das Denken in der abendländischen Geschichte, also können wir das nicht so romantisieren, als wären wir Innen. Es gibt kein zurück. Wir sind außen. Wir wissen, daß wir sterben und das ist letztlich auch der Bruch, die Differenz. Im Wesentlichen ist es das. Dieses zyklische Element, das im Bauerntum noch das (Versöhnende) Naturalistische hat: gezeugt werden, geboren werden, kommen, gehen, sterben und Tod. Da gibt es keine Brüche, das ist eine zyklische Welterfahrung und ich denke, das wirkt bis in unsere Zeit nach, das stirbt mit dem Erwachsenwerden. Aus dem Dilemma komme ich, das ist mein Traumata. Wenn man eine menschlichere Welt will, muß man das Verlassen, woher man kommt, dann muß man anders werden, anders denken, ein Anderer werden. Heimat ist nur eine Ausrede für Bequeme und Faule.

Das ist aber, glaube ich, keine Antwort, was du für ein Verhältnis zu deiner vergangenen Familie und zukünftige Familie hast.
Keines. Mein Weg nach Wien (und in die Kunst) war sicher erstmal eine Flucht aus der Umklammerung der Familie, sowohl denkerisch als auch geographisch. Zuerst geographisch und dann nach und nach denkerisch. Es geht mir aber nicht um den Begriff Familie. Mutter, Vater und Kind -, das kann ich mir schon vorstellen, obwohl es das nicht geben wird, so wie es ausschaut in meinem Leben.

Hättest du eine Sehnsucht danach?
Da ich, wie ich kurz skizziert habe, so aufgewachsen bin, und für mich das gar keine Problematik ist, damit umzugehen, so wie es - grotesk gesagt-, auch kein Problem ist, Tiere zu töten und zu essen, ist es auch kein Problem, ein Kind zu zeugen, zu versorgen und aufzuziehen. Das hat so etwas von Fortsetzung und Gewißheit, aber je älter ich werde, desto allergischer bin ich. Das Wesentliche ist, das zu erkennen, anzunehmen und konsequent zu sein, den begonnenen Weg weiterzugehen, nicht aus Sturheit, sondern mit immer größerer Gelassenheit. Es geht auch nicht darum, daß das der bessere Weg ist. Das glaube ich gar nicht. Ich spreche auch immer von meinem Unglück. Ich glaube nicht, daß ich das deshalb als Modell eines glücklichen Weges bezeichnen würde. Aber ich denke mir, das sind Bruchlinien, mit denen man sehr bewußt umgehen kann und muß, weil sie aus menschlichen Entschlüssen und Handlungen kommen, die wir verantworten müssen - auch wenn sie manchmal von außen kommen. Oft sind diese nicht wirklich entschlüsselbar, nicht nachvollziehbar; wir wissen nicht, warum das so kommt und das andere nicht. Aber man nimmt es an. Familie meint Fortsetzung: mit all diesen Bedingtheiten und Abhängigkeiten, daß man nie aus diesen Kreisen der mörderischen Tödlichkeiten rauskommt. Also diese immer wiederkehrenden, auch in meinem Umkreis sich abspielenden, ganz banalen Geschichten: Die Mutter kriegt mit achtzehn die Tochter und ist unglücklich, heiratet trotzdem, will, daß es die Tocher einmal gut hat, läßt ihr alle Liebe zukommen und Vernunft - und dann bekommt die Tochter mit achtzehn auch ein Kind und heiratet wieder den Vater des Kindes, von dem sie sich dann wenigstens - die Zeiten ändern sich - nach 3 Jahren scheiden läßt, er aber bis heute keine Alimente bezahlt - nun kümmert sich die Oma um beide Kinder. Das ist für mich Familie. Da wird alles der Familie als naturaler und moralischer Kern unterworfen. Familie als zyklisches Moment von Geschichte und Gesellschaft, das trotz allem Bestand hat. Es gab aber ja einmal so eine geistige Bewegung der Bourgeoisie, den Humanismus, der den freien und aufgeklärten Menschen entwirft, das Individuum - die Liebe ist so seine Erfüllung in dieser Weltanschauung, in dem "man" sich frei auf "frau" wirft und entwirft, um letztlich im Gefängnis Ehe, der Keimzelle der bürgerlichen Familie zu enden. Das ist meine Erfahrung, man muß sich sein Leben lang aus diesem Müll und Mist schälen.

Also wenn deine Familie ein Gefängnis war, wenn du das so sagst, wie war dein Verhältnis zum Gefängniswärter Vater und zur Gefängniswärterin Mutter? Wie unterscheiden sich diese Verhältnisse?
Na ja, der Vater war kein Gefängniswärter. Der war eher ein Mitinsasse. Er hatte möglicherweise ein geräumigere Zelle. Wir haben ja sehr kleine Zimmer gehabt, ich eines sogar zusammen mit meinem Bruder.

Wie unterscheidet sich dein Verhältnis zum Vater und zur Mutter. Es gibt ja immer so Biographien, wo es dann heißt: Ich habe einen Vaterkonflikt gehabt und dann wird die Biographie aus dem Vaterkonflikt erklärt. Bei dir ist es ja eher die Mutter, mit der du einen Konflikt hattest.
Da möchte man gleich die ganze Psychoanalyse umstürzen, apropos Ödipuskomplex und so. Ich würde heute nicht mehr sagen, daß ich einen Mutter-Konflikt hatte. Das wäre eine unzulässige Verkürzung. Natürlich hat man gegen alles, was Autorität ist, und die Mutter war die totalitaristische bis terroristische Autorität, natürlich hat man gegen all das, als Einziger in der Familie übrigens, aufbegehrt, weil man in einem unerhörten Widerspruch lebte, leben mußte. Und wenn dann, wie bei unserer Mutter damals, jemand allergisch reagiert auf Widerspruch, weil sie das gar nicht kennt - das kann man heute auch sehr gut nachzeichnen und begreifen -, dann wird einsichtig, warum sie damals darauf unangemessen allergisch und tödlich reagierte. Und dass man quasi unter die Räder einer Machtmaschine kommt, die man selbst gar nicht begreifen konnte. Da kann man also nicht sagen, ich hätte "einen Konflikt" mit "ihr" gehabt. Ich hatte eher ein inneres Zerwürfnis (und eine Verzweiflung) mit der Tatsache, daß das was um mich ist, nicht genügt, daß ich nicht genüge. Da begann auch mein Schreiben. Das war - mehr oder weniger - eine eigene kleine Welt bauen, in der es das etwas andere Denken gibt, das ich mir damals natürlich mehr einbildete, als das es das wirklich gab. Es ging mir damals auch nicht so sehr um die eigene Emotion ... [Unterbrechung durch Handyleuten] ... Ich denke also heute nicht mehr, daß ich damals einen Konflikt mit der Mutter hatte. Damals waren das natürlich Exzesse an Krisen und Geschrei und Gezeter, und das hat natürlich auch mit meiner pubertären Krise und all dem inneren Chaos zu tun. Und dann kam - gottseisgedankt - die Literatur und die Kunst, als Überlebensmittel - primitiv gesagt. Dann kam dazu, daß man - ein bißchen älter geworden - quasi der Intellektuelle im Dorf war, was vorher der Narr war, ist dann halt im kleinbürgerlichen Kontext der Intellektuelle gewesen. Auch das kann man nicht als Unglück bezeichnen. Ich hatte ja dann so einen Status, wo man mich fragte: Machst du da bitte ein Text; oder ich wurde gebeten, eine Theateraufführung zu inszenieren. Ich habe dann auch gleich erstmalig ein Stück verfaßt, ein Kinderstück. Einerseits ist man also Außenseiter, weil alle denken, daß ist der Denker, so wie Günther Anders letztens in dem Gespräch sagte: der Avantgardist, was natürlich ein kompletter Unsinn und Irrsinn ist, wenn man ein Kind ist, aber andererseits ist es auch angenehm, man wird gefragt, man wird gebraucht. Aber um zur Mutter zurück zu kommen: Ich glaube das Unglück mit der Mutter war, daß sie nicht begriffen hat, daß es eine (innere) naturgemäße Krise mit mir selbst war: was ich bin, wer ich bin, wer ich werden möchte. Der ältere Bruder war (und ist) eher an der Mutter orientiert und der jüngere war einfach noch das Nesthäkchen und dazwischen kam eben ich - in aller äußeren Schärfe und inneren Unruhe. Und meine Mutter hat mit dem nicht umgehen können. Damals war ich ziemlich wütend und zornig und schlug um mich und in einer gewissen Weise war ich auch Opfer, aber das ist Geschichte und mich kümmert jetzt die Gegenwart.

Jenseits all des anderen, will man einfach geliebt werden.

Ich glaube, daß ist überhaupt ein Mißverständnis, das sich oft bemerke. Auch in der Schule hat sich das dann fortgesetzt. Ich habe da eine Schülerzeitung gemacht. Ich wurde als Umstürzler und Revolutionär empfunden. Was natürlich vollkommener Unsinn war. Ich war ein etwas zu dick geratenes kleines Kind, das nicht ausgekommen ist, mit den Verhältnissen. Und ich denke mir, grob gesagt, ist das heute immer noch so. Auch jetzt im Theater, man hört, wie ich so bin. Und ich denke, das ist doch alles lächerlich, weil man es als ungenügend empfindet, wie es ist. Und sicher jetzt denke ich, daß es nicht nur mit mir zu tun hat, im Gegensatz zu den Beziehungen zu Frauen, wo ich denke, daß es mit mir zu tun hat. Ich weiß, das hat mit den politischen Verhältnissen und sozioökonomischen Bedingungen zu tun, daß diese ungenügend und falsch sind. Inzwischen hat man das reflektiert und auf ein intellektuelleres Niveau gehoben, gestemmt sozusagen. Maru [seine Frau] hat mit einem ihrer Wiener Freunde über mich gesprochen und der meinte: meine Schwierigkeiten haben damit zu tun, daß ich aus der Provinz komme und daher nicht begreife, wie man in Wien - im urbanen Dschungel - auftritt, wie man agiert in wienerischen Verhältnissen, mit Charme und Gemeinheit, in Zimmerchen sitzend und schulterklopfend die Messer wetzend. Aber so einfach ist das auch wieder nicht. Da ist möglicherweise ein Primitivismus, auf hoher intellektueller Ebene, der sich aber nicht kommuniziert, weil er eben nicht kommunikabel ist. Das ist es schon wieder, dieses Verhältnis zum Menschen, das Außen und Innen. Da kommen wir wieder zurück zu der Geschichte, wo ich als Kind einen Turm baue. Ich bin im Kindergarten und ich baue einen Turm und bin ganz mit dem Turm beschäftigt und finde das ganz großartig, übrigens auch die Kindergartentante, ein kreativer Kopf sozusagen, freut sie sich. Die anderen schmeißen primitiv mit Legosteinen herum oder sich auf den Kopf. Und ich baue systematisch und geordnet, ich weiß nicht, ob er so groß war, einen Turm, das hat Form, ich durfte auch immer extra basteln, ich wurde von der Kindergartentante beauftragt, die liebt mich übrigens heute noch, schöne Sachen zu machen. Mit vier Jahren baut man sich so einen Turm. Na klar, Männer bauen einen Turm.

Ein Tunnel ist auch schwer zu bauen mit Legosteinen.

Also ich bau halt diesen Turm und dann kommt irgendwer und ich glaube, daß das sogar ein Freund von mir damals war, das zeigt auch sehr viel, ich weiß aber nicht, ob ich das nicht nachträglich erfunden habe, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß das ein Freund war, mit dem ich immer zusammen gespielt habe, mit wenigen habe ich gespielt. Und der hat mir den Turm zerstört. Der weiß, das tut mir weh und der macht das auch. Und ich glaube, daß ist schon eine Metapher für meine ganze folgende Existenz. So weit so traurig.

Danke für das Interview.

erster teil des interviews [heft 3 | september 2011]

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