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[heft 3] [september 2011] wien - st. wolfgang



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wolfgangseestörung
Su Tiqqun

Der einzige Ort, an dem sie keine Schallwellen, sondern nur Restgeräusche eines fernen Wumsen vernahm, war das Bad. Das Bad war durch eine Tür aus furnierten Holzabfällen geschützt, die wiederum von einer weiß lackierten Eingangstür, Marke Landhausstil, im Flur beschirmt wurde. Im Bad war es still. Fast still. Stille, selbst wenn sie es wäre, ist ja nicht still, sondern natürlich, überwiegend jedoch kultiviert und akustisch dekoriert. Erst umgeben von Wald, Zirpen, Schwirren, Windlaunen und fallenden Baumfrüchten reden wir von Stille. Wir loben raunend rauschendes Naturgeflüster, ländliche Eintracht in allen Höhenlagen, aber um einen Rest Stille zu finden, dafür mußte sie ins Bad, in ihre Naßzelle, ins Örtchen.

In Seefeld am Attersee hat ein Campingplatzbetreiber einen massiven Einfall verbaut und Notdürftigen als stillen Flachbau zur Verfügung gestellt. Man wußte, daß an dieser Stelle Gustav Mahlers Refugium gestanden war, dem sich nicht einmal seine Zubringerin nähern durfte, auch sehen wollte er sie nicht, wenn sie ihm das Essen brachte, so daß sie den Korb unweit des Hauses abstellen und unbedankt zurückgehen mußte. Mahler ertrug keinen Lärm. Mahler suchte den Schutz der Stille, um komponieren zu können. Diese natürliche Stille wiederherzustellen, wäre unzeitgemäß, aber Mahlers Komponierhäuschen darf ein verkleinertes Restdouble herzeigen und als Gustav-Mahler-Konserve den klanglosen Beweis erbringen, ein Genie beherbergt zu haben, das schon 1896 wegen Unstimmigkeiten mit dem neuen Wirt des nahegelegenen "Gasthofes zum Höllengebirge“ der schönen Seegegend entsagte. Effizienzsteigerung und Übernächtigungsoptimierung hätten sonst Mahlers Talent trockengelegt. Sein steinernes Hüttchen wurde beseitigt und stattdessen eine Baracke errichtet, die lange Zeit dem Fluß anderer Gewerke diente: dem Auskochen schmutziger Wäsche, um Erjagtes auszuweiden, der Verbesserung der Sanitärstrukur eines modernen Zeltplatzes auf der Gasthofwiese. Wieviele Campingfreunde dort ihr Wasser gelassen haben, weiß man nicht. Dem angepißten Mahler wurde nach viel Aufhebens ein Duplikat ersonnen mit einer Taucherstation in Greifnähe. Hunderte Bergseetaucher erkunden nun unter Wasser den Gehalt der Stille, viele Dauervererehrer haben sich Dauerparzellen in seiner Nähe gekauft. Der Gustav-Mahler-Campingplatz hat das Komponierhäuschen vollkommen integriert. Als primus inter pares(1) verfügt er über reichlich Stellfläche, ansonsten fällt es schwer sich vorzustellen, wie einsam dieser Ort einst gewesen war. Makellos und abgeschieden.

Eine Einraum-Zelle, denkt sie, während sie das Bad betrachtet. Ein subtropischer Raum, weil so naß, daß nicht einmal Handtücher trocknen können bis zur nächsten Benutzung, ein Feuchtgebiet also, aber eines, das nicht mit seinem Titel kokettiert, um Bestsellerrekorde mittels Analfissur anzustacheln, auch käme ihr Hinterteil nicht auf den Gedanken, Enddarmerotikgeständnisse auszuscheiden. Doch als Einsiedelort ist das schöne Bad ungeeignet, weil sie sich ständig im Spiegel verdoppelt, was ihren Wunsch nach Abwesenheit durchkreuzt. Hier kann sie Gymnastik machen, die Schultergelenke verdrehen, eine Brockhausschwarte als Hantel stemmen, Tai Chi improvisieren und mit der Badeente Wellenreiten üben, aber um echter, nach Nadeln duftender Stille habhaft zu werden, muß sie in die Berge gehen.

Die Berge befinden sich, so hat es ein Werbemittel versprochen, in unmittelbarer Nähe und hauchen namentlich ein wenig Grusel hinüber: Sie heißen Totes Gebirg, Höllengebirg, Steinernes Meer, Teufelshaus, Saurüssel, Donneralm, Höllkar, Höllkogel, Feuerkogel, Drachenwand, Dürres Eck und Scharfberg(2). Letzterer wird auf Grund eines Schreibfehlers schon seit längerem Schafberg genannt und gilt als Topattraktion unter den hier Versteinerten der Erdgeschichte. Schön ist er nicht. Ein Teil seiner Spitze fällt schräg ab, als wäre Gott ein Stück Berg aus der Hand gefallen, so daß er die Resthälfte nach oben drücken mußte, um sie höher erscheinen zu lassen, denn eine abschüssig kahle Fläche bietet sich dem fernen Auge dar – "sanft und begrünt“, behauptet ein arrivierter Kenner dieses Landes, "ein Fels für’s Auge“.(3)

Zwar findet ihr Auge nach einiger Zeit den Berg, dem die Kuppe fehlt, aber noch seltsamer erscheint ihr die Kappe, die er trägt, das kleine Barrett, das über den Felsen lugt und wie ein Himmelsbunker über die Berge schielt. Das ist das Ausflugslokal, erfährt sie prompt, weshalb ihre Augen sofort ein anderes Ziel aufsuchen. Denn mit Ausflüglern will sie keinen Kontakt aufnehmen, mit den Bergen jedoch schon.

Aus geologischer Sicht wird die schuppenförmige Spitze des Schafberges auf eine erdgeschichtliche Störung zurückgeführt. Im Alttertiär wurde die tirolische Alpendecke in dieser Region aufgeschuppt, das heißt stärker zusammengeschoben, heftig eingeengt, weil der Erde zu warm war; regelrechte Hitzepickel sind aus ihrer Kruste gesprossen und "für die Tektonik des Wolfgangseegebietes war der… blockförmige Vorschub der Kalkalpen besonders schicksalsschwer. Entlang einer bereits vorgezeichneten Schwächezone riß eine geradlinig Nordwest-Südost verlaufende Störungskluft, die ‚Wolfgangseestörung‘ auf (Gefühlte Geologie. Das Erdmittelalter in Sinnesverwirrung. Sic)…“(4). Als man viel später die Ufer des Wolfgangsees befahrbar machen wollte, senkten sie sich, rutschten weg, wichen aus, verschlangen Teer und Aufschüttungen, schluckten Kies und Technik. Die Labilität des Bodens, die sich während des Straßenbaus bemerkbar machte, hat ihre Ursache in dieser parallel zur Straße verlaufenden, gewaltigen, erdgeschichtlichen Störung. Doch der Asphaltgürtel mußte sein, sonst wären die Autos im Sumpf verschwunden.

(1) Lat.: Erster unter Gleichen.
(2) Ursprünglich Scarfesperg. Von ahd. Scarf = scharf.
(3) Alfred Komarek. Salzkammergut. Reise in ein unbekanntes
Land. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien, 1994, S. 214.
(4) Leopold Ziller. Vom Fischerdorf zum Fremdenverkehrsort. Geschichte St. Gilgens und des Aberseelandes. Verlag der Gemeinde St. Gilgen, 1975, S. 314.




textproben aus dem buch | wolfgangseestörung


su, tiqqun
geb. 1962 in gera (thüringen) studierte von 1981 bis 1985 germanistik und geschichte an der karl-marx-universität Leipzig. 1987 bis 90 Internats- und Dozentin für Literatur und Profangeschichte am KPS Naumburg.
1990 Umzug nach Berlin. Zeitgleich Studium der Folgen des Mauerfalls.
1990 bis 97 Weichensteller betriebsin- und externer Karrieren im KH Tacheles, zeitweise Projektentwickler, meistens Psychoschlucker. 1992 Assistenz für das Gastspiel des Gran Circo de Chile. Seitdem Zusammenarbeit mit dem Zirkus-Produzenten Ueli Hirzel und Co-Konzeptorin international beachteter Zirkusproduktionen (Que-Cir-Que, Cirque oder das Lächeln am Fuße der Leiter, Un Horizonte Cuadrado).
Ihren Lebensunterhalt sichert sie mittels Vermietung, Unfallrente, Gebäudereinigung und der Erstellung von Webseiten. Seit 2006 befaßt sie sich mit Lyrik und deregulierter Prosa. Sie lebt in Berlin.
Bisherige Aufenthaltsstipendien: Château de Monthelon (Frankreich, 2010) und St. Wolfgang (Austria, 2008). Lyrischer Sprecher des MCO-Cabarets Monthelon 2010 und einziger Versprecher des PO2ZIES#02-Festivals Paris 2010.

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