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[heft 16] [september 2018] wien - st. wolfgang



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[zeitschrift]
Der Hagebuttenhimmel

Sophie Reyer


In einem roten hohen Baum hinter einem Himmel aus Hagebutten lebte ein Mädchen. Es trug lange Strümpfe, sein Haar hing bis zum Boden. Das Mädchen schaukelte auf den kahlen Ästen und sah den Himmel an.
Eines Abends kletterte ein nervöser Krebs das lange pfefferminzfarbene Haar des Mädchens hinauf.
"Was machst du hier?" fragte er, als er oben angekommen war.
"Sitzen und schauen."
"Wie?"
Das Mädchen lächelte den Krebs an, wippte auf dem Ast umher und zog sich die Ringelstrümpfe ein wenig in die Höhe.
"Ich sitze und schaue."
"Und was schaust du an?"
"Den Hagebuttenhimmel."
"Und sonst?"
Das Mädchen lachte.
"Sonst nichts."
"Und was siehst du?"
"Das Sonnenlicht ändert sich. Pass auf!"
Der Krebs schaute. Er wurde schnell nervös, klackerte mit seinen Scheren und lief auf den Ästen auf und ab. Nach zehn Minuten sagte er:
"Du bist verrückt. Da ändert sich nichts."
"Warte noch ein bisschen."
"Nein. Ich muss arbeiten.”
Er griff nach einem Büschel Pfefferminzhaar und kletterte fort.
"Warte”, rief das Mädchen ihm nach.
"Ich habe keine Zeit. Aber wenn du einmal Arbeit suchst, dann kann ich dir eine verschaffen.”

Es dauerte eine Weile, da spürte das Mädchen ein leichtes Kitzeln auf dem Handrücken.
"Guten Morgen”, sagte es, "wer bist denn du?”
Denn so viele flinke Beinchen auf einmal hatte es noch nie gesehen. Das Tier wuselte den Handrücken des Mädchens auf und ab.
"Ich bin die Ameise. Und jetzt lass mich, ich muss arbeiten.”
Das Mädchen stutzte. Auch der Krebs hatte vom Arbeiten gesprochen. Was war es, das am Arbeiten so besonders war?
"Was heißt das denn, arbeiten?” fragte das Mädchen.
"Das heißt”, antwortete die Ameise hektisch, "dass ich etwas Sinnvolles tue. Ich baue Straßen. Du verstehst.”
Das Mädchen nickte, obwohl es nicht richtig verstand.
"Aber bleib doch ein wenig, und sieh dir mit mir den Himmel an”, schlug es schließlich vor.
Die Ameise war jedoch schon über seinen Oberarm auf den Kopf mit dem pfefferminzfarbenen Haar geklettert, um einen der Äste zu erwischen. Das Mädchen sah ihr traurig nach.

Es dauerte nicht lange, da wurde es Nacht. Ein rubinroter Schimmer lag über dem Hagebuttenhimmel, und das Mädchen blickte lächelnd den Horizont an. Auf einmal peitschte ihm etwas in sein Gesicht hinein.
"He, Mädchen, du bist im Weg”, sagte eine schrille Stimme.
Das Mädchen blinzelte mit den Augen und entdeckte eine flattrige Fledermaus, die mit hektischen Flügelschlägen vor ihm auf und ab flatterte.
"Bleib doch ein wenig, liebe Fledermaus”, rief es, denn es begann, sich einsam zu fühlen.
"Schau dir mit mir den Hagebuttenhimmel an.”
"Du bist doch verrückt, meine Liebe. Ich muss arbeiten. Fliegen. Mäuse jagen. Für deine Träumereien hab ich keine Zeit.”
Und schon war die Fledermaus wieder verschwunden. Das Mädchen aber war traurig. Es fühlte sich einsam, und alleine machte es ihm keine Freude mehr, dem Licht dabei zu zu sehen, wie es sich veränderte.
"Vielleicht bin ich wirklich ein bisschen verrückt", dachte es.
Es sah den Hagebuttenhimmel lange an.
Dann beschloss es, fortzugehen und den Krebs zu suchen. Vielleicht hatte er ja Arbeit für das Mädchen.

Das Mädchen ging weit. Die Pfefferminzhaare wurden struppig. Die Ringelstrümpfe wetzten sich ab an den Sohlen. Sie bekamen Löcher. Nach ein paar Tagen begegnete das Mädchen einer schleimigen Nacktschnecke und einem glitschigen Regenwurm.
"Wo gehst du hin?", fragte die Nacktschnecke.
"Was suchst du?", wollte der Regenwurm wissen.
"Ich suche den Krebs."
"Warum?"
"Ich möchte arbeiten."
Die Nacktschnecke und der Regenwurm verstanden sofort, dass das wichtig war.
Sie nickten und machten große Augen.
"Leider haben wir den Krebs hier nicht gesehen."

Das Mädchen nickte und ging weiter. Bis es an den Rand eines Felsens kam, neben dem ein kleiner Urwald begann. Es setzte sich hin. Da pirschte sich eine Hyäne an es heran.
"Was machst du denn hier? Deine Strümpfe sind ganz kaputt."
"Ich suche den Krebs."
"Was will denn ein Mädchen wie du, das so schöne Haare hat und so eine feine helle Haut, von einem Krebs?"
"Ich möchte arbeiten", sagte das Mädchen.
Die Hyäne grinste.
"Wenn das so ist, arbeiten kannst du auch für mich."
"Wirklich?"
"Gerne."
"Ich danke dir."
Das Mädchen sprang auf und hüpfte herum.
Die Hyäne räusperte sich.
"An die Arbeit", sagte sie.
"Ja!"

Die Arbeit für die Hyäne sah so aus: Das Mädchen musste auf die Bäume klettern und Wunderfrüchte pflücken. Sehr viele. Die Wunderfrüchte hatten eine reptilienartige Haut und große Kirschmünder. Sie erinnerten ein bisschen an Blumen. Sie hießen deshalb Wunderfrüchte, weil jeder, der sie pflückte, unglaublich wichtig wurde, wenn er eine aß.

Die Hyäne verkaufte die Wunderfrüchte für sehr viel Geld. Einige der Wunderfrüchte aß sie selber.

Das Mädchen durfte am Abend auch eine Wunderfrucht essen. Den Rest bekam die Hyäne. So lebten sie miteinander. Es war kein schlechtes Leben.

Eines Tages, als das Mädchen wieder auf den Baum kletterte, sah es einen Papagei da sitzen, dessen Gefieder in den buntesten Farben schillerte. Das Mädchen war ein bisschen müde und setzte sich neben ihn.
"Was machst du?"
"Ich singe."
Das war dem Mädchen gar nicht aufgefallen, weil es so beschäftigt war.
"Und warum?"
"Weil ich singe."
"Und für wen singst du?"
"Nur so."
"Aber das ist doch sinnlos."
Der Vogel lächelte.
"Vielleicht. Aber hör mal zu."
Er begann zu zwitschern.

Da erinnerte sich das Mädchen. An die Äste ihres Baumes, an den Hagebuttenhimmel vor seinem Blick. An den Wind im Haar und an die rote Farbe des Holzes. Und wie es den ganzen Tag auf seinem Ast gewippt und dem Licht zugeschaut hatte.
Und es lief schnell wieder nach Hause zurück, so schnell, dass ihm die Ringelstrümpfe in die Kniekehlen rutschten und es staubte unter seinen Sohlen.

Auf einmal stolperte das Mädchen über etwas Hartes. Es war der Krebs.
"Warum siehst du so traurig aus?” fragte das Mädchen.
Der Krebs klackerte mit den Scheren. Es klang müde.
"Ich bin ein wenig einsam”, sagte er.
"Dann komm doch mit zu mir”, sagte das Mädchen.
"Du arbeitest und ich schaue den Himmel an.”

Und wenn das Mädchen und der Krebs den roten hohen Baum und den Hagebuttenhimmel wieder gefunden haben, dann sitzen sie jetzt auf einem Ast. Und der Krebs arbeitet. Und das Mädchen schaut den Farben des Himmels zu. Und dem Licht. Und den Schatten. Sonst nichts.



© bei der autorin

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