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[heft 14] [dezember 2016] wien - st. wolfgang



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Alienationen

Peter Hodina


Während mein Nachbar und ich – wir trafen uns am Lift – noch kurz auf ein Bier gingen, das EM-Spiel Deutschland vs. Polen war gerade mit 0:0 abgepfiffen worden, die Monitore im Gastgarten wurden abgebaut, die Sitze waren von einem kurzen Regenguss noch etwas nass, aber "wir sind ja Männer!", trafen immer mehr Polizeiautos ein, ein hektisches Blaulichtgeflacker griff auf der Straße um sich, ein Ambulanzbus fuhr hinzu, aber alles war auffällig entspannt.
"Wird das jetzt eine Straßensperre?", fragte ich. "Der Amokläufer hat Verspätung."
Und wir tranken weiter unser Bier.
Alles war da, was NACH einem Amoklauf eintrifft, nur der Amokläufer noch nicht. Das Danach wurde zum Davor.
"Vielleicht hat NUR nebenan im Wohnhaus einer eine Geisel genommen."
"Er kommt und kommt nicht. Sollen wir hingehen zu den Polizisten und fragen?"
Es ist erstaunlich, mit welcher Ruhe Leute ihr Bier trinken können. Wir warteten, ob etwas passieren würde oder wolle.
"Bist du noch immer für liberale Waffengesetze?", fragte ich.
Es handelte sich nur um eine von irgendeinem Vandalen zertrümmerte Heckscheibe eines Taxis, wie wir später sahen. Sonst war nichts passiert. Die Blaulichter waren untätig darum geschart.
Aber wir beide saßen im Gastgarten, spielten den Gedanken durch, ein Amokläufer könnte auftauchen, der Wind blies zwei Frauenröcke zusätzlich hoch, wir waren nicht gewillt zu weichen.
Imaginäre Fortsetzung der Geschichte: Als der Amokläufer endlich eintraf, gab es Applaus, untermischt mit Buhrufen. Scharfschützen nahmen Aufstellung. Noch war kein Schuss gefallen.
Der Amokläufer hastete zum Brezelbaum und stahl eine Brezel. Noch immer fiel kein Schuss. War er unbewaffnet?
Da hatte er einen Brezelbissen in die falsche Röhre bekommen und erlitt einen Erstickungsanfall. Die Rettung, flankiert von Scharfschützen, näherte sich dem wie um sein Leben Hustenden.

Es muss einen geradezu wahnsinnig machen, in einem fremden Land herumzugehen, in dem man an allen Ecken und Enden zu spüren bekommt, nicht erwünscht zu sein. Kam soeben in der Dunkelheit mir ein junger, vollkommen deprimierter Afrikaner entgegen, vor dem ich mich überhaupt nicht fürchtete. Er geht alleine herum, wählt eine Zeit, wo er vermeintlich am wenigsten gesehen würde und macht sich gerade dadurch schon wieder verdächtig. Er kann hinschauen, wo er will: von überallher lauert Ablehnung, ja Gefahr. Das muss den besonnensten und unschuldigsten Menschen herunterbringen, es gehört eine Übernatur dazu, das auch nur eine Woche durchzustehen. Niemanden will ein solcher angreifen, niemanden bestehlen, seine Flucht hat kein Ende, er flieht auch hier, keineswegs in der Sicherheit angekommen, ununterbrochen. Kann sich ja nicht unsichtbar machen. Wodurch wäre ich besser als er? Flöhe ich die Stadt und die mich verdächtigenden Blicke, flöhe ich aufs Land, ich wäre nicht ungefährdeter. Ginge ich in den Wald oder am Fluss entlang, einfach nur, um mich in Bewegung zu halten und mir mein sorgenüberfrachtetes Denken abzugewöhnen, ich würde dem pauschal verdächtigenden Blick nur noch verdächtiger erscheinen. Wo ich hinblickte, wären Wände, Abweisungen. "Was ist das nur für ein Europa? Wo bin ich hier gelandet?"

Beschreibung des alten Salzburgers
Vorgestern alten, sicher weit über 80-, wenn nicht sogar 90-jährigen Mann gesehen, Mantel, Anzug, Hut, nicht gebückt, ohne Stock, mit dem Ausdruck einer sozusagen "wissenden Hoffnungslosigkeit". Die aber in einer Weise "weiß" oder auch nur zu wissen glaubt, dass sie sich als äußerste habituelle Starrheit bekundet. "Was macht Sie so unglücklich?", hätte ich ihn gerne gefragt, aber man macht das nicht bei Fremden. Ich meine fremden Leuten mit dem Wort "Fremden", das derzeit eine andere Bedeutung angenommen hat, obwohl ja auch diese unter sogenanntem "Generalverdacht" stehenden Fremden fremde Leute sind. Was ist weiter dabei, halt ein alter Opa, so könnte man die Erscheinung sogleich abhaken. Ich stand ihm im dichtgedrängten Bus ganz nahe gegenüber und sein glasiger, äußerst, nämlich bis zur totalen Hoffnungslosigkeit verbitterter Blick hat sich in mich "hineinfotografiert". Über Stunden spürte ich die Nachwirkung dieser von beiden Seiten unfreiwilligen und ungesuchten "Begegnung": etwas schier Vergiftendes, wenn ich es nicht bewältigen, nicht symbolisieren würde können, trüge ich davon, dies war mir klar. Früher war Salzburg voll mit solchen Leuten. Dieser hier gehörte zu den Letzten seiner Art. Deshalb schauen wir ihn uns noch einmal genau an! Ich kann nur vermuten, was ihn so bekümmert, wobei das Wort "bekümmert" noch eine innere Beweglichkeit dem Bekümmerungsgrund gegenüber gestattet. Hier war aber an diesem alten Mann ALLES Erstarrung. Vielleicht sogar fest in sich verkapselter Zorn. Sorge auch. Doch eine Sorge, die sich immer mehr zur Hoffnungslosigkeit verfinstert hat, zur Erkenntnis: "Das Spiel ist aus!" Auch einen Groll witterte ich heraus, wobei, wie gesagt, ich die Erscheinung des alten Mannes nur mit Mutmaßungen, Vermutungen umkreisen kann. Als Bild fiele mir dazu noch ein: einen um den ganzen Mann gewickelten Verband vorsichtig aufzulösen oder böser: eine Mumie zu entrollen. Der Groll dürfte sich auf die Politik beziehen, nehme ich einmal an, aber freilich kann ich mich dabei sehr irren. Es bleibt ein Versuch, den Groll- und Erstarrungsgrund zu ERRATEN. Es könnte mit den Flüchtlingen zusammenhängen. Es könnte aber ebenso mit den erstarkenden Rechten zusammenhängen, mit dem aufkommenden Ruf nach einem "starken Mann". Mit einer Angst vor einem Bürgerkrieg, der Angst davor, dass sich die Geschichte wiederholen wird. Es könnte mit allem zusammen zusammenhängen, auch das ist möglich in einem solchen strengen, illusionslosen Kopf. Wenn seine Verzweiflung mit der Zerstörung der Natur, der Regenwälder zusammenhinge... Auch das wäre nicht auszuschließen, aber mein Gefühl sagt mir bei dem alten Herrn, dass sein Innenleben hauptsächlich um den Menschen und die Menschen unentwegt kreise. Und es lag in der starren Miene auch ein Zug von erbitterter Selbstgerechtigkeit, etwa der Art: "Wir – das heißt 'UNSERE Generation' – haben alles richtig gemacht, während die anderen alle falsch sind. WIR haben nach dem Krieg wieder alles aufgebaut, unter Entbehrungen, eisern sparend, 'auf alles verzichtend', und jetzt müssen wir im hohen Alter erkennen, dass alles den Bach hinuntergeht, dass alles nach und nach, inzwischen in immer rasenderem Tempo verspielt wird." Auf die Gefahr hin sicherlich, das in ihn hineinzudichten, habe ich doch die Wahrscheinlichkeit für mich, dass in dem alten Mann ein solcher Non-stop-Film sich abperpetuiert. Es kann sein Fall aber komplizierter sein. Er könnte auch die Nazis als Opfer abgekriegt haben. Das ist äußerlich nicht auszumachen. Vielleicht hätten andere den intuitiveren Blick, es soll ja Leute geben, die sofort spüren, ob einer ein Guter oder Schlechter. "Nie hätten WIR das Heft aus der Hand geben dürfen!" Auch das schien mir aus dem Alten zu sprechen. "Wir hätten damals in die Jungen noch mehr, mit äußerster Härte unsere Erfahrungen hineindrillen, hineinprügeln müssen. Wir hätten den Roten nicht freies Spiel in den siebziger Jahren lassen sollen." Mit dem letzten Satz bin ich in meinem Vermuten zu weit gegangen, denn es kann sich ja ganz anders verhalten. Aber ich will den Mann porträtieren und mit der Wirkung, die er auf mich hatte, fertigwerden. Dort, wo der Mensch erstarrt und zwar so sehr, dass er wie ein "lebender Leichnam" wird, wie ein aufrechter, vertikaler Toter kurz vor dem mit ausgezeichneter Stilnote quittierbaren Abgang ins Grab, scheint sich etwas abzuspielen, dass beinahe schon es sekundär wird, was seine Verzweiflungsgründe sind. Oder irre ich damit? Ich glaube, dass der Mann sich für "durch und durch moralisch" hält und die anderen, fast alle Zeitgenossen für ihm gegenüber "unmoralisch". ER ist einer der wenigen Ernsten in der Spaßgesellschaft. Und zur Erfahrung "seiner Generation" gehört es, niemals aufzugeben, wenn man denn überleben wolle. Selbst und gerade Verzweiflung ERWEICHT einen solchen alten Kämpfer nicht. Es wird bis in die Kapitulation schon hinein "niemals kapituliert!" und auch nach der Kapitulation nicht, die ja nur wie überhaupt internationale Verträge "nur Fetzen Papier" sind. Dem in solchem Sinne "Moralischen" ist Moral etwas wie eine Utopie. Es ist ein einfaches Weltbild: Wären alle Menschen moralisch oder würden sie vom Gesetzgeber gezwungen, sich moralisch zu verhalten, dann würde in einer Gesellschaft, in einem Staat, sogar in einer Wirtschaft nichts schiefgehen können. Diese moralische Sichtweise ist von einer ja wirklich unglaublichen Einfalt. Alle Übelstände und Fehlentwicklungen werden auf die "Unmoral" dann zurückgeführt. Dass aber eine durch und durch moralische Welt zugleich auch eine durch und durch sterile, eine Welt der trostlosesten Langeweile und phantasielosen Bravheit wäre, kommt nicht in die Perspektive. Nicht tröstet sich ein solcher moralistischer Verstand mit dem nüchternen, jedoch auch freien Blick auf die Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung: Dass es so mehr oder weniger kommen "musste" geradezu (trotzdem möchte ich es nicht mit fatalistischer Strenge sehen: dieses "musste"), es uns nicht überraschen kann, dass historische Erfahrungen nicht oder nur in Ausnahmefällen bis in die dritte oder vierte Generation weitergegeben werden können. Dass überhaupt der Begriff "Generation" Überlieferung nicht automatisch verbürgt oder den Historiker ersetzen kann. Ja dass sogar, gerade von Generation zu Generation, der Faden abreißt, weil das Alter die Jugend bestimmen und fixieren möchte und die Jugend damit kaum leben kann, wenn denn sie überhaupt vom infantilen Flecke kommen will.

Entspannungsübung: Sich die Welt ohne einen selber vorzustellen. Sie würde dadurch, um ein Geringes zwar nur, leichter. Die Phänomene erstarkten. Von diesem Bad im Nullpunkt zurückgekehrt, geht es für das wiederaufgetauchte Subjekt treppan. Ohne einen selber, wäre gleich alles friedlicher, freier. Der Gesang der Amsel käme zur Hörung. Aber durch WEN? Wie pünktlich der Flieger. Wie für sich die dahingleitenden Züge. Der Pfiff des Rotkapplers: durchdringend. Dunkelblauer die Nacht, wirklicher die Sterne. Ein Krampf- und Kontraktionspunkt weniger. Ohne Spinne würde ein Netz im Wind bewegt.

Hagel gerade in Salzburg.
"Das Gewitter ist", schrieb Hegel, "ein Vulcan in der Wolke."
(Vorlesungen über die Naturphilosophie)
Der Donner radebrecht, es fliegen ihm die Zähne in Gestalt von Hagelkörnern heraus. Er köchelt in der Kälte seines schwerartikulierbaren Grimms. Wie wenn man etwas sehr Unverdauliches in ihn hineingeworfen hätte. Der Wolkenmagen beratschlagt sich mit sich selbst. Soll er nach vorne oder besser nach hinten hinaus sich entleeren?
Jetzt nur mehr ein Röcheln in den Rinnen.

Vorhin drei Sandler an der Salzach. Einer tanzte, die Augen verdreht, vor mir und sang: "Hast du denn geglaubt..., dass die Welt sich um dich dreht?"
Dachte zuerst, er meinte mich, aber dann hörte ich aus einer Ausspeisungshalle dort gleich nebenan, dass da drinnen – trotz der Hitze draußen – unentwegt gesungen und offenbar missioniert wurde.
Wenn man ihnen schon eine Suppe schenkt, dann soll sie mit "Glauben" gehörig verpfeffert werden. Es erfüllt mich zunehmend mit Missmut, sage mir dann: "Diese Geier... Immer wenn der Mensch am Boden liegt, dann kommen sie angeflattert, um zu bekehren."
Der Sandler tanzte und sang aber das alberne Lied weiter, für sich selber, es war nicht an mich speziell adressiert gewesen. Vielleicht wollte er es aus sich durch Singen und Tanzen nur wieder herausbekommen.
Sollte die Botschaft des Liedes sein, dass durch Egoismus, also durch die Fehlannahme, dass sich die Welt um einen drehe, die Armut der Betroffenen sozusagen selbstverschuldet zustande gekommen wäre?
Doch auch Mr. Trump, der sich nicht bei der Obdachlosenküche anstellen muss, und viele andere seines Schlags denken in ihrem Narzissmus doch ebenso, dass die Welt sich um sie drehe. Und sie haben im Unterschied zu den armen Teufeln damit Erfolg.
Das kann also nicht die Ursache allen Übels sein: dass jemand zeitweise sich für die Sonne hält. Die ohnedies am heißesten gestern herunterschien.
Ging aus mir herausschreitend zugleich in mich: glaubte nicht ICH in diesem sonnenhaften Moment, dass sich alles um mich drehe?
Oder gar: dass ich mich um die Welt drehe! Das hätte eher entsprochen.
Schritt bestgelaunt fürbaß. Mehrmals wurde ich von herumsitzenden Erschlafften, Ermüdeten – es waren sicher keine Obdachlosen dann – durch Zurufe beleidigt. Es verdross diese offenbar meine Kraftentfaltung, meine pralle Solarität. Ließ mich nicht beirren. Imaginierte mich in der Sonnenglut mit einem eisernen Harnisch marschierend, in den das makedonische Sonnensymbol getrieben war.
Erinnerte mich, wie oft ich früher allein infolge meiner Frohgemutheit angepöbelt oder ausgebuht worden war, sogar die platte Phrase fiel einmal von einer Greisin her: "Hochmut kommt vor dem Fall."

Vorgestern in der Rauchpause auf den Stiegen des Münchner Hauptbahnhofs einen alten, würdigen Schwarzafrikaner in Anzug und Mantel, eine bunt bemalte Mappe in der Hand, gesehen, der in bedeutungsvoller, aber doch immergleicher leerer Geste vor allen Leuten stehenblieb und majestätisch lachend seine Zähne zeigend das Wort "Sowjet" aussprach. Immer von sich her mehr als eine Armlänge von den Angesprochenen entfernt. Es hatte etwas von Weihwasserversprengen, von Segnen. Die meisten wichen ihm aus, er machte dann eine wegwerfende Bewegung. Als er zu mir gekommen war, schien er mich ausnehmen zu wollen. Da sagte ich selber nun zu ihm: "Sowjet!", und er nickte nur, sich nicht weiter mit mir einlassend wollend, und erwiderte in allerklarstem Deutsch: "Dich kenne ich!" Und wankte theatralisch weiter, um zu den nächsten wieder sein ewiges "Sowjet" zu sagen. Ein Harmloser. Dachte, so wäre Robert Mugabe, nicht an die Macht gekommen, vielleicht geworden.



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