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litera[r]t
[heft 12] [dezember 2015] wien - st. wolfgang
sprachschweigen, oder
Margit Heumann
menschliche konstellationen scheinen sich wechselseitig ein offenes buch. gesprächsweise hangelt man sich von
buchstabe zu wort zu satz, nimmt klang wahr, sucht nach langer rede kurzem sinn, wird sich gegenseitig ein buch
mit sieben siegeln. man blättert und blättert und missinterpretiert die bedeutung hingeworfener gesprächsfetzen.
fruchtlose dialoge, konterkariert von taubblinden stummreden. seite für seite gewährt der diametrale widerspruch
keine erkenntnis.
wenn gedanken nach ausdruck streben, nach befreiung, nach kommunikation, verliert der schädel seine substanz, wird
dünn und hauchdünn, mutiert zu glas, zu einer membran. gibt den blick frei auf gehirnwindungen, ein chininhäutiges
reptil, verknäuelten raupen oder engerlingen nicht unähnlich, durchscheinend. gibt den blick frei auf biologie,
chemie und physik, elemente und materie im wechselspiel, durchschaubar. gibt den blick frei auf neurotransmitter
mit elektrischen ladungen huckepack, wortsinn von synapse zu synapse dirigierend.
verständigung ist ein weites, unverständliches feld. man spricht, und redet doch nicht miteinander. die angst vor
buchstaben und wörtern klebt am gaumen. silbenchaos auf der zunge, verlorene sätze, strandgut im ohr, nicht
wiederzuerkennen, was daraus entsteht und noch weniger was ankommt. ein gut gemeinter gemeiner ableger wird
zum dschungel falscher interpretation. auf der suche nach dem sinn von output und input torkelt man durch den
raum, sucht zusammenhänge und versucht die enden zusammenzufügen. gekappte wurzeln.
selbst formeln und phrasen lösen sich auf. hohle worte zwischen adressant und adressat, gesendete wahrheit wird
triviale floskel und wo ist die bedeutung abhanden gekommen unterwegs? sinn wabert formlos durchs nirgendwo,
amorphe teilchen gestaltloser puzzles, wer macht sich einen reim darauf und welchen? was gesagt werden wollte –
verpufft. was gehört werden sollte – entleert. oder anders herum: sagen gesolltes – entleert, hören gewolltes –
verpufft. kommunikation upside down.
dem betrachter fliegen wolkenbrüche aus bildern um die ohren. ein sprachschatten stolpert und fällt vor seine
eigenen füße. fällt rückwärts in die zeit und holt sich seine schwärze aus der zukunft. nichtiger inhalt, von
spruchbändern durchweht. randständige und erstickte säumen den weg. spotlights strahlen ihre brutalität in die
wunde. keiner hilft. keiner greift ein in diesen kosmos aus vergifteter atmosphäre.
reden schwingen sich in die lüfte, werden von höhe verschluckt, hinterlassen nichts. man fällt von seinem
felsenfesten glauben ab. leere stellt alles in frage: vergangenheit – was hat man falsch gemacht? gegenwart –
warum hat man nichts gemerkt? zukunft – was soll werden? sprache besteht aus unwörtern, semantik lauert hinter
jeder hecke, akronyme und akrosticha sind an der tagesordnung, anagramme fallen sich gegenseitig ins wort,
attackieren aus dem hinterhalt. man duckt sich, verschränkt die arme überm kopf, duckt sich tiefer, möchte
sich nie mehr aufrichten, nichts mitteilen, nicht sein.
eine stimme zählt die stationen mit fremder zunge. oder vielmehr andersherum sozusagen nichts. man geht und
geht bis zu dem punkt, wo der sprachwind in verschiedene richtungen weht, von beiden seiten stößt man sich
ab und in die böen. nichtsahnend wohin sie tragen und ob. man besteht kaum noch. hohl ist man, ohne raum und
zeit und fasson. die jeweilige existenz ist nur eine hypothetische, skrupel und spekulationen angebracht und
unvermeidlich.
schnappatmung. im kehlkopf die quelle speit in stotternden kaskaden. man taucht ein und unter, bis die
vergangenheit von morgen im gehörgang dröhnt. zerrt und schreit und singt. klimpert und schmerzt. bis
hammer und steigbügel brechen, das trommelfell explodiert, die ohrmuschel zerspringt. flachatmung lässt
das wasser zurück fließen, sucht vertrautes, da ist nichts. was ins auge sticht, ist farblos und lässt
erblinden. schnappt man nach luft ist die stammelnde quelle wieder da, radebrechend.
genaues möchte man nicht wissen. nichts möchte man wissen. was fremd ist, möge fremd bleiben. zu hoch die
töne, zu schrill, der boden unter den füßen zu schwankend. unausweichlich das universum, übergestülpt vom
eigenen fleisch und blut. unbegreiflicher alptraum, in den man sich einspinnen möchte, weil er leichter zu
ertragen ist als die realität. das aufwachen bleibt nicht außen vor, man wünscht sich den nachtmahr zurück.
im dämmer ist jeder dialog grau. vielleicht auch feuerrot wie die angst im nacken, oder trauerviolett wie
die altäre in der fastenzeit. sicher nicht grün. nirgendwo fichtenhaine oder weiden mit grasenden lämmern.
nirgendwo ostern. man ruft nach der wahrheit, sie ist irgendwo dort, wo man nicht ist. wilde allegorien,
krumme triebe und wortspitzen, sticheleien von dornen und einbildungen. weiterreden ist die schwierigste
aller aufgaben, man möchte seine sandalen erzählen lassen von den jahreszeiten, die nichts von den folgen
wissen, wenn gespräche falsches zeugnis ablegen.
bilder im kopf. man malt sie aus wie ein kind den ball und die blume und die katze im malbuch. man zeichnet
sie nach, wie man mondgesichter nachzeichnet oder kusslippen, wie man eine unterschrift fälscht. manchmal
gerät der stift über die vorlage, diffamiert das wollen, produziert zerrbilder, schmierereien, grimassen.
schreckliches lachen schnürt die kehle zu, man möchte es abwürgen, indem man den stift wegwirft und das papier
zerknüllt. doch unkaputtbar schwebt das schreckliche lachen über bleiernen phrasen.
tagsüber treibt man in gemeinplätzen, taucht in phrasen und fischt nach vertrautem. schlingen tauchen auf
und schlangen, wirre vögel und formeln, die nach heimat schmecken. man dürstet, man saugt sie auf, erbricht
eine fontäne aus floskeln, eine kalte quelle. man fühlt sich verfolgt, flüchtet vor dem leeren gefunkel,
geflunker. man wird gleichzeitig gegen oben und unten geworfen, verfängt sich zwischen himmel und erde in
unsichtbaren netzen.
man will den ort der schatten verlassen, reist innerlich weit, selbst zum schatten geworden. tanzt den veitstanz
des irrsinns auf überbleibseln seiner selbst. auf meinungen, einbildungen, wirrungen. die gedankensprache ist
eingestürzt, die wörter gesplittert. teile von buchstaben liegen verunstaltet und nicht wiederzuerkennen herum.
ein offenes massengrab. ein gräberfeld. ein friedhof der wörter im dunkeln.
man geht in seinem sprachraum herum, als wäre er einem fremd. man betritt die gewundenen gefilde wie einen flor
aus gefräßigen heuschrecken und hinterlässt zerfall. man hofft auf keine unendliche geschichte, sondern einen
schüttelreim zum vergessen, ein haiku in fremder sprache. man täuscht normalität vor. klammert sich an uniformierte
regeln und weiß nicht, was tun. man schickt heiseres geflüster von einem gehirnareal zum anderen. mit dem erfolg
von verbrannter erde. loss or victory or shame, alles eins.
man öffnet schubladen, sie werden zu wunden. man weidet sie aus. man reißt die erinnerungen an sich. man packt die
alben am kragen und presst den inhalt heraus. man zerfetzt die heile welt vom krabbelkind, vom ersten schultag,
vom kindergeburtstag, vom ballett und schleudert sie hinter sich. man beraubt sich der freien wortwahl und ersetzt
sie durch die immer gleichen tugendwärter. man jagt die letzten silben in die luft und stopft sich selber das maul.
im hals der kloß.
nachtschwärze am himmel der beteuerungen. nebel, rauchschwaden und schlagschatten fern und nah. zu land, zu stadt,
zu wasser, in der luft. detonationen ohne pausen. kein verschnaufen oder neu überdenken nach lokalaugenschein.
ertaubung durch stille, verschweigen, verstummen. die ohren der hörer, die augen der seher, die nasen der riecher,
die zungen der sprecher verweigern sich.
die verbindung ist zerstört.
der dialog bricht ab.
oder.
© bei der autorin
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