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litera[r]t
[heft 12] [dezember 2015] wien - st. wolfgang
Annäherung
Klaus Ebner
Hier beginnt also meine Erzählung. Ja, du runzelst die Stirn, fragst, Was sonst,
ist ja klar, dass die Geschichte hier ihren Anfang nimmt, dafür wurde das Buch
geschrieben und schließlich setzt schon die äußere Form, der Absatz am Beginn der
Seite, den optischen Rahmen fest. Spaß ohne: Du dachtest, jetzt wäre eine gute Gelegenheit,
ein paar Zeilen zu lesen, vielleicht um etwas Neues zu erfahren, Ungeahntes, Kurioses, Skurriles,
vielleicht aber auch nur, um ein wenig unterhalten zu werden, für ein paar kostbare Minuten, die
du dem Alltag abzwicktest.
Und da bist du bei mir gelandet, deinem Autor, der ich jetzt in die Werkzeugkiste meines schriftstellerischen
Könnens greifen muss, um etwas Interessantes aufs Papier zu zaubern. Das Papier, ja, der Sockel für die Worte,
die ich erdacht habe, aber auch jenes Material, das du in Händen hältst. Sag, hast du dir schon einmal Gedanken
gemacht über das Papier deines Buches, seine Beschaffenheit, seine Stärke oder die Festigkeit? Sogar der Farbton
kann unterschiedlich sein und sich überdies im Laufe der Zeit leicht verändern, ermatten, fleckig werden oder
vergilben. Ob es sich um billiges Fabrikspapier, gräuliches Altpapier oder handgeschöpftes Büttenpapier handelt,
macht einen Unterschied. Du zweifelst? Glaub mir, du fühlst das Papier, das zwischen deinen Fingern ruht, auch
wenn die Differenzen unterschiedlicher Papiere lediglich von deinem Unterbewusstsein registriert werden.
Nein, ich habe nicht vor, dich zu entnerven. Ich möchte lediglich in einen Dialog mit dir eintreten, in einen
Dialog, der für uns beide fruchtbar sein soll, fruchtbar sein wird. Und nicht, in orthografisch winziger
Abweichung, furchtbar. Das war ein Scherz, Pardon.
Zurück zum Papier. Das nur eine Seite deines Buches, was sage ich: unseres Buches ist. Eine andere ist das
Schriftbild. Der gesamte Satzspiegel, seine Ästhetik oder, wenn darauf, wie es in manchen Verlagen Usus sein
soll, kein Wert gelegt wird, seine mediokre äußere Erscheinung. Die enthaltene Schrift, ihre Lettern und
Satzzeichen, bilden den Mikrokosmos des Buchsatzes. Wie dieses Wort schon sagt, ist das eine Welt für sich.
Eine wunderbare Welt, wenn ich so sagen darf, die der Geschichte, die ich erzähle, eine ganz eigene Note verleiht.
Bekommst du dieselbe Erzählung in einer anderen Schriftart zu lesen, dann ändert sich auch die Leseerfahrung:
Du wirst das Buch sozusagen mit anderen Augen sehen.
Also ich denke, jetzt sind wir schon ein klein wenig miteinander vertraut. Könnten in medias res gehen und
mit der Geschichte beginnen. Natürlich können wir das ganz langsam angehen, vielleicht das Lesevergnügen
etwas vorbereiten, ein Glas Limonade und etwas zum Knabbern bereitstellen, vielleicht noch rasch aufs Klo ...
Wie? Welche Imitation meinst du? Ach so, du kennst das schon. Aus Italien. Verstehe. Calvino, Se una notte
d‘inverno ... Ist mir durchaus bekannt, ja, doch habe ich keinerlei Intention zu plagiieren. Das bringt nämlich
nichts, einfach abkupfern. Soll doch jeder selbst schauen, wo er bleibt und wie weit er kommt. Dasselbe probiere
ich hier, ganz eigenständig oder egoistisch, was in gewisser Weise dasselbe bedeuten kann, ich versuche dich
einzubinden, auch wenn das an deine Erinnerung rührt. Begleite mich einfach!
Die Geschichte beginnt auf der Straße. Eine Straßenszene. Klassisch? Mag sein, wobei ohnehin nicht sehr viele
Stätten in Frage kommen: Straße, Heim, Arbeitsplatz, Natur. Jeder Ort kann einem dieser Begriffe untergeordnet
werden. Ich entschied mich für die Straße, zumindest in diesem Buch. Die Straße ist dunkel, nicht so sehr,
weil sie eng angelegt wurde – eine schmale Gasse in der Altstadt irgendeiner europäischen Metropole –,
sondern weil die Nacht bereits hereinbrach. Der Himmel ist mehr oder weniger schwarz, die Straßenszene
fahl beleuchtet, und von überall her ist Abendlärm zu vernehmen: die Gäste der Restaurants, Geschirrgeklimper,
Lachen, Motorräder, ab und zu ein Auto auf der nahe gelegenen Hauptstraße, irgendwo bellt ein Hund, und in der
Ferne erklingt eine Polizeisirene. Geradezu typisch für einen Kriminalroman, aber das wäre nicht mein Genre,
und dessen bist du dir vollends bewusst. Auf dieser Straße ...
Ich soll aufhören? Aber jetzt wird es doch erst interessant. Ach so, du musst mal. Nun also doch auf die
Toilette. Gut, das geht vor, ich warte.
Und? Alles erledigt? Wunderbar. So fühlst du dich leichter, offener für den Text mit all den Geheimnissen,
die in ihm stecken und die du so gerne entdecken möchtest.
Die Hauptperson, die ich für dich entworfen habe, ist ein Mann. Warum? Nun, warum nicht? Ich meine ...
Ach, was weiß ich! Ist das wichtig? Ja, du hast Recht, wahrscheinlich ist es wichtig. Also, die
Hauptperson ist ein Mann, weil sie keine Frau ist. Da gibt es überhaupt nichts zu lachen,
ich bin noch nicht fertig! Wäre die Hauptperson eine Frau, dann müsste ich völlig umdenken,
alles aus der Perspektive einer Frau betrachten. Das fällt mir zumindest schwerer. Und woher
soll ich wissen, ob eine Frau tatsächlich so denkt und empfindet, wie ich es ihr andichte?
Ich glaube, meine Hauptperson ist ein Mann, weil auch ich einer bin, und da kann ich besser
mitreden, bin sozusagen Fachmann auf diesem Gebiet. Eine Koryphäe. Quasi.
Ob ich das Publikum dabei im Auge habe? Nun, um ganz ehrlich zu sein, eigentlich nicht. Jeder,
der will, kann und soll mein Buch lesen, da mache ich keinen Unterschied, und ich freue mich
über alle, die ihre Freude daran haben. Ob ich mich auch über jene freue, denen es nicht gefällt?
Hm, von Freude ist in diesem Fall natürlich keine Rede. Es ist schade, vielleicht sogar kränkend,
wenn es jemandem nicht gefällt, aber ich kann es wohl nicht allen recht machen. Ich skizziere
meine Geschichte, ich plane die Details, entwerfe Fortgang und Plot, und dabei bin ich ganz in
mich zurückgezogen. Obwohl diese Geschichte natürlich für dich, meinen Leser, der du ja bist,
gedacht ist. Wie? Warum meinst du, das sei nicht ganz korrekt ... Oh, du bist gar kein Leser,
ich meine: kein männlicher Leser, sondern eine Frau, eine Leserin! Das ist mir jetzt peinlich,
denn ich hatte dich tatsächlich für einen Mann gehalten, wahrscheinlich, weil ich mein eigenes
Geschlecht automatisch in mein – unsichtbares – Gegenüber projizierte. Schließlich sehe ich dich
nicht vor mir – das ist der Nachteil des Geschichtenschreibens.
Kehren wir, da das nun geklärt ist, zur Erzählung zurück, zur Hauptperson, die ich entworfen habe.
Nein, an meinem Konzept ändert sich dadurch nichts. Ob du eine Leserin oder ein Leser bist, ist mir
eigentlich schnuppe. Tut mir leid, das sollte nicht beleidigend klingen. Was ich sagen will, ist, dass
ich sowohl für Leserinnen wie auch für männliche Leser schreibe. Denn die Lesenden sind sozusagen die
ganz große Welt da draußen, die mir immens wichtig ist, doch genau genommen kann ich mich um diese nicht
auch noch kümmern. Ich arbeite indes an meinem Text, an dem – vergleichsweise überschaubaren – Mikrokosmos,
der meine Geschichte ist. Den Mikrokosmos hatten wir schon bei der Schrift. Und nun folgt der Mikrokosmos
der Geschichte. Du siehst, wir bewegen uns einen Schritt weiter, tauchen in eine weitere Seite des Buches,
und du wirst sehen, es hat derer noch viele. Ein nettes Wortspiel, nicht wahr?
Mein Protagonist ist auf der Straße unterwegs, das heißt, in der dunklen, schummrigen Gasse im Zentrum
einer nahezu beliebigen Großstadt. Genau dort triffst du ihn an, diesen Mann, dessen Namen ich nicht
gleich verrate. Dazu wirst du noch eine Weile lesen und ein paar Seiten weiterblättern müssen. Was du
gewissermaßen alleine tun willst. Ich verstehe, dass du beim Lesen ungestört bleiben möchtest. Nichts
ist lästiger als ein Autor, der einem andauernd dazwischenquargelt. Habe ich verstanden. Geht in Ordnung.
Ich sage nichts mehr.
So. Und was tun wir jetzt? Du wartest auf meine Geschichte und ich warte darauf, dass du sie liest.
Das scheint mir eine gewisse Pattstellung zu sein. Erfinde ich weder Personen noch Handlung, dann
bekommst du nichts zu lesen, und das widerspricht wohl deiner Intention, jetzt, in deiner Freizeit,
ein Buch oder auch nur Teile daraus zu lesen, um Instruktives, Packendes oder zumindest Erwähnenswertes
daraus zu ziehen. Habe ich nicht Recht? Ich denke jedoch, wir werden unseren Dialog aufschieben. Lass
mich noch einmal darüber nachdenken und dann setzen wir uns wieder zusammen: du, die Leserin, und ich,
der Autor. Du wirst sehen, dass diese Pause uns beiden guttut. Die Geschichte wird wachsen mit den Tagen,
die du ihr und mir zugestehst. Meine Geschichte, unsere Geschichte und nicht zuletzt deine Geschichte.
© beim autor
klaus ebner geboren 1964 in wien. studien der romanistik,
germanistik, translationswissenschaft und europäischen wirtschaft.
brotberufe in der informatikbranche und als übersetzer. autor von erzählender prosa und essays.
schreibt lyrik auf deutsch und katalanisch. mitglied der grazer autorinnen autorenversammlung,
des österreichischen schriftstellerverbandes und der katalanischen schriftstellervereinigung AELC.
vierter preis beim feldkircher lyrikpreis 2005. erwähnungen bei la catalana de lletres 2004 und
beim premio internazionale di poesia nosside 2007. wiener werkstattpreis 2007 und
zweiter preis des kurzprosa-wettbewerbes des ÖSV 2010.
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