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litera[r]t
[heft 11] [juni 2015] wien - st. wolfgang



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Gravitöne [auszug]
René Steininger


Splendid isolation
Für Sabine

Der Mann, der Inseln liebte. Der Titel einer Erzählung, die ich las und fast vollständig
    wieder vergaß.
Ich weiß nur noch vage, worum es ging, aber ich stelle mir den Mann vor:
ein Junggeselle vermutlich, einer mit einsiedlerischen Zügen,
der sich von der insularen Existenz schlechthin angezogen fühlt,
oder ein Reisender,
der das ruhelose Wandern von einer Insel zur nächsten liebt.
Ihre stolze Abgeschiedenheit,
die Aura der Isolation,
das Versprechen einer anderen Welt,
alles, was ihre Anziehung auf ihn ausgemacht hat,
verfliegt jedoch, sobald er einen Fuß auf sie gesetzt hat.
An ihren sattgrünen Hängen grasen Schafe.
Durch die üppig duftenden Wälder ziehen andere wohlbekannte Tiere:
ausgesetzte Hauskatzen und Hunde zumeist, die sich von den Abfällen
    der Inselbewohner ernähren.
Geteerte Straßen führen zu den entlegensten Stränden.
Die Häuser der Dörfer im Inselinneren gleichen denen auf dem Festland in Größe,
    Farbe und Form.
Schon bald nach seiner Ankunft befällt den Mann,

der Inseln liebte, erneut die Langeweile.
Hinter all den Puzzlesteinen erkennt er immer früher das gewohnte Bild, das Muster.
Und bricht seine Reise ab.
Flieht, verfolgt von den Furien der Vergangenheit.
Seine Inselaufenthalte werden kürzer, die Eilande kleiner und kleiner.
Das letzte, das bedrohlich schwarz aus dem Ozean ragt, ist kaum größer
    als ein riesiger Fels.
Hier endet nun seine Odyssee, oder vielmehr: Hier beginnt sie.
Denn zum ersten Mal fühlt er einen Sog, der sich nicht bei der ersten Berührung
    verflüchtigt.
Sitzend an ihren Rändern mit dem Rücken zum Meer
lässt er Tage, Monate und Jahre vergehen −
versunken in die Betrachtung ihres kahlen Rückens,
der spärlichen Gräser im Wind,
der Furchen und Falten,
der runden, sonnenbeschienenen Senken, Mulden, Täler:
Er erforscht ihre Höhlen,
wandert ihren schmalen Grat entlang,
studiert ihre Risse in den wechselnden Lichteinwirkungen des Tages,
endlos fasziniert vom eleganten Schwung ihrer Linien unter der rauen Kruste:
ein geduldiger Wächter über dem versteinerten Magma.

Was sind die anderen gegen dich, sagt er,
diese faden Abkömmlinge des Kontinents,
von der Geologie getrennt, aber im Geiste vereint.
Du hast dich am eigenen Schopf aus dem Wasser gezogen,
aus den verschlungenen Tiefen der Erde und der Zeit.
Du stehst allein, doch aus freien Stücken.
Unnahbar kühl bist du nur an der Oberfläche.
In deinem Innern aber schwelt und rumort ein Vulkan.
Derselbe, aus dem du dich selbst entbunden hast.
Ich werde nie fertig dich anzusehen,
und ich werde nicht müde,
dich zu suchen in den feinsten, fernsten Schatten deiner Schönheit.





Das Lindenblattfossil

Der Stein
ist Blatt

das Blatt
Stein

geworden
mit den Jahren

Zusammen
sind sie eins

Beides:
hart & fein

anders
und mehr

als für sich
allein




Kalliope mit Knacks

Über seine Traumfrau
sagte ein Freund

sie vereine
in ihrer Person

den Körper
einer Zwanzigjährigen

und den Humor
einer Vierzigjährigen

− in wenigen Zügen
das Bild

der idealen Muse
zeichnend:

Knackig
soll sie sein

und einen Knacks
muss sie haben




Von der Selbstbefriedigung

In einer Unterführung
sehe ich
einen Mann
masturbieren

Auch das Kätzchen
auf dem Sims
spielt
mit seinem Schwanz

Warum nenne ich
es göttlich
und ihn
pervers?

Holte er sich
einen runter
wenn nicht Höheres
ihn bewegte?



© beim autor | textproben aus dem buch gravitöne

steininger, rené
geboren am 30. mai 1970 in paris. aufgewachsen in prag, helsinki, kuwait city. studium in wien: doktor der philosophie (1996). zwischen 2000 und 2005 lektor für deutsche sprache und literatur in bukarest und bratislava. seit 2006 freiberuflicher lehrer und autor in wien. schreibt gedichte, aphorismen, kurzprosa und essays. publikationen zuletzt rinforzando, gedichte & geschichten, bucher verlag, hohenems 2008. tremolando, gedichte & geschichten II, bucher verlag, hohenems 2010.



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