[zurück] | blättern | [weiter]


Wechselfälle

Mir gings damals nicht so gut. Das eine war zum andern gekommen. Auto weg, Job weg, Haus weg, Frau weg. Ich hielt mich gerade so über Wasser: ein möbliertes Zimmer im Vorort, und Arbeit als freelancer. Und dann der Anruf. Ich saß gerade mitten auf der Brücke, das Handy im Jackett. „Notar Wendt“, sagte eine geschäftsmäßige Stimme. Es war wie in einer dieser amerikanischen Komödien mit happy end. Nicht, dass ich mir später irgendetwas wieder holte (weder Auto noch Job noch Haus noch Frau), aber wie gesagt, der Anruf kam ziemlich überraschend. Ob es mir am nächsten Mittwoch passe, fragte der Notar. Ob zehn Uhr okay sei? Ich sagte, ich müsse erst in meinem Terminkalender nachschauen, obwohl ich seit Monaten weder einen Terminkalender noch einen Termin hatte. Dann sagte ich, 11.30 Uhr dreißig wäre besser.

Später fing ich mich wieder. Nicht, dass ich heute nichts mehr trinke, ein paar doppelte oder dreifache gönn ich mir noch ab und zu. Aber jetzt führ ich wieder ein Leben. So halbwegs.

Irgendwann hab ich mich dann daran gemacht, mir die Geschichte zusammen zu basteln. Der eine hatte da etwas gehört oder gesehen, der andere dort. Nun begreif ich halbwegs, wie’s gelaufen ist.

Viele hatten den Alten am Bahnhof gesehen, obwohl er mir dort nie aufgefallen war: Ein Mann um die siebzig, schlecht rasiert und ungekämmt. Mit immer dem gleichen Blouson (im Sommer wie im Winter), einer schwarzen Anzugshose und abgelatschten Lederschuhen.

Viele hatten ihn auch vor den Imbissbuden gesehen, vor dem Preisteufel und vor dem Bekleidungshaus Marks. Lange umschlich er das Gebäude, blickte sich mehrmals um und verschwand schließlich in dem Kaufhaus. Nur wenige Minuten später tauchte er wieder auf, eine der dünnen Einkaufstüten in der Hand.

Man hatte ihn auch vor den Banken gesehen, wie er mit eiserner Geduld die Aushänge studierte. Dann blitzen (so meinte einer) seine erloschenen Augen kurz auf und er ging entschlossen auf den Eingang zu. Aber dort blieb er stehen, besann sich und schlurfte davon, den Blick so leer wie zuvor.

Hauptsächlich aber hatte man ihn am Bahnhof gesehen. Vor allem am Abend, wenn die Vorortzüge aus der City kamen. Wie er in den Papierkörben nach Zeitungen und Zeitschriften kramte. Dem Handelsblatt, der FAZ, dem Capital. Er drückte sie an sich wie einen kostbaren Schatz. Schließlich setzte er sich, im Sommer wie im Winter, auf eine Bank am Bahnhofsvorplatz (eine Straßenlaterne gab ihm Licht) und studierte den Börsenteil. Machte sich dabei Notizen. Schon lange hatte er es aufgeben, von den Männern mit den Aktenkoffern einen Tipp zu erhalten. Vor ein paar Jahren (so meinte einer) hätte er hin und wieder einen dieser Business-Typen mit unterwürfigem Blick angesprochen: „Könnten Sie mir bitte …“ Aber der war schnell weitergegangen, ohne ihn anzusehen.

In seinem letzten Jahr, als die Tage wieder kürzer wurden, rauschte der ICE durch den Bahnhof und die Schweinwerfer des Zuges (so denke ich mir) erfassten einen schmalen Kopf. Dem Alten, der sich seinen Blick für Licht und Schatten bewahrt hatte, schien dieser Kopf wie von einem Strahlenkranz umgeben: der Erlöser. Dieser Mann war ihm neu, den hatte er nie zuvor gesehen: ein Versace-Typ, Mailänder Modellschuhe, randlose Brille, Designer-Handy. Federnder Gang. Er strahlte eine Kraft aus, wie sie nur Menschen mit dem unbedingten Willen zum Erfolg besitzen. (Nur so kann ich es mir erklären.) Und er hatte Begleitschutz. Rechts eine junge Frau mit Madonnengesicht, hellgraues Kostüm, hohe Pumps, schmale Ledertasche. Links der geborene Assistent im H&M-Design.

„Was für ein Tag“, stöhnte der Businessmann eines Tages, als er an dem Alten vorbeihastete. „Habe zehn Stunden mit Großmann verhandelt. Ein Investment um die vier, fünf Millionen. Aber solchen Kleinkram mache ich nicht mehr lange. Ich habe zwei Angebote laufen, Goldman Sachs und die Lehman Brothers. Ich verhandle noch.“

Jeden Tag wagte sich der Alte im Gedränge etwas näher an den Businessmann heran, bis er sich schließlich auf eine Armlänge zu ihm vorgearbeitet hatte. Zufrieden, den Blick auf den Mann geheftet, schritt er dann hinter ihm her.

Als es Herbst wurde, setzte Nieselregen ein. Der Alte bemerkte, dass der Businessmann sorgfältig den Pfützen auswich. Einmal hätte er den Mann beinahe angesprochen. Aber dann traute er sich doch nicht. Da muss es passiert sein. Dem Businessmann fiel eine seiner Visitenkarten aus der Tasche und der Alte hob sie rasch auf.

In diesem Herbst fielen die Kurse. Zuerst in Amerika, dann auf der ganzen Welt. Bald waren Goldmann und Sachs und die Lehman Brothers pleite.

Zu dieser Zeit ereignete sich auch der Vorfall bei Marks. Als der Alte das Kaufhaus verließ, schrillte der Alarm. Sofort packte einer von der Security den Mann, hielt ihn fest und entwand ihm die Plastiktüte. Das Ganze war ein Irrtum. Der Kassenbon lag korrekt in der Tüte. Eine gestresste Verkäuferin hatte vergessen, den Diebstahlschutz zu entfernen. Da rastete der Alte aus. Er schrie und brüllte, bis die Polizei kam und ihn nach draußen schob. Er erhielt Hausverbot.

Am nächsten Abend stand er wieder am Bahnhof. Die Blondine an der Seite des Businessmannes fehlte und dem Alten fiel auf, dass die Modellschuhe nicht mehr blank poliert waren und in dem Blick des Mannes eine leise Müdigkeit lag. Eine Woche später fehlte auch der H&M-Typ. Der Mann wirkte nun erschöpft, die innere Feder, die seinem Gang Elan und Auftrieb gegeben hatte, war zerbrochen. An diesem Tag wagte es der Alte (einen staubigen Aktenkoffer in der Hand) den Mann anzusprechen. Der Businessmann hastete gerade über die Brücke, da sagte der Alte mit seinem unterwürfigen Dackelblick leise: „Könnten Sie mir bitte helfen …“ Der Businessmann blickte nicht einmal auf. Er war mit seinen Gedanken in einer anderen Welt. Aber so schnell wollte sich der Alte nicht geschlagen geben. Also hielt er den Mann am Jackett fest. Da erst warf der Businessmann dem Alten einen kurzen Blick zu. Aus erloschenen Augen. Als der Alte das sah, ließ er den Mann los und blickte wie erschlagen zu Boden. Jetzt sah er den Fremden so, wie er war. Erledigt. Der Businessmann ordnete sein Jackett, dann stolperte er davon. Der Alte stand lange da und starrte ihm hinterher. Er sah, wie der Businessmann in eine Pfütze trat. Als er weiterging, schwamm mitten in dem trüben Wasser ein kleiner Lederflicken mit senfgelben Kleberesten.

Endlich wandte sich der Alte ab und stolperte in die Nacht.

An diesem Abend fielen die Temperaturen, nachts kam der erste Schnee.

Am nächsten Tag stand im Lokalteil ein reißerischer Artikel. Knallrote Headline. Im Stadtpark sei ein Mann, eine stadtbekannte Erscheinung, erfroren. Viele hätten ihn für einen Penner gehalten, doch als ein Polizist den abgewetzten Aktenkoffer, den die starren Hände des Toten umklammert hielten, öffnete, staunte er nicht schlecht: Er war prall voll mit Einhundertmarkscheinen.

Kurz darauf durchsuchte die Polizei das Haus des Mannes, eine heruntergekommene Villa inmitten eines verwilderten Parkes. Neben gut hundert halbfertig gemalten Selbstporträts seien die Beamten auf ein paar staubige Aktenkoffer gestoßen, darin knapp sechs Millionen in gebrauchten Scheinen. Alles D-Mark. Außerdem ein ganzes Zimmer voll mit Einkaufstüten von Marks. Ein Artikel pro Tüte, nur Sonderangebote, originalverpackt und mit Preisschildern. Damenunterwäsche, Kinderstrümpfe, eine Strickmütze, mehrmals reduziert, und billige Handtücher.

Einen Tag später erschien in der Zeitung ein weiterer Artikel: Nach dem Abitur habe der Mann Kunst studieren wollen. Doch sein Vater, ein kleiner Immobilienhändler, hatte darauf bestanden, dass er in seiner Firma einstieg. Nach der Ausbildung eröffnete der Mann eine eigene Firma. Wie zum Trotz für den erzwungenen Beruf, war er erfolgreich wie nur wenige. Innerhalb von 15 Jahren machte er ein Vermögen. Er galt als knallharter Geschäftsmann und als Pfennigfuchser. Dann zog er sich zurück, kaufte eine Villa und begann zu malen. Doch nie verließ auch nur ein einziges Bild sein Atelier. Bei den Baken galt der Mann als ewiger Querulant. Stets waren ihm die Renditen zu niedrig und die Kosten zu hoch. Er überwarf sich mit einem Berater nach dem anderen, wurde ausfällig, hob sein ganzes Geld ab und brachte es zur nächsten Bank. Schließlich hatte er bei allen Banken Hausverbot. Dann kam der Euro. Von nun an ging der Mann (vermutlich immer, wenn er Geld in der neuen Währung brauchte) zu Marks und kaufte irgendeinen billigen Artikel. Stets bezahlte er mit einem Hundertmarkschein und bekam das Wechselgeld in Euro. Auch eine Art, sein Geld umzuwechseln.

Nach der Beerdigung des Alten wurde der Businessmann noch für ein paar Wochen auf der Brücke gesehen, vor sich einen Pappteller mit ein paar Münzen. Der Mann trug die gleichen Sachen wie immer. Schwarzer, abgetragener Abzug, schwarze Schuhe, randlose Brille. Das Gesicht unrasiert, die Haare lang und strähnig. Neben sich ein Designer-Handy. Von der anderen Straßenseite aus konnte man sehen, dass sein rechter Schuh ein großes Loch hatte.

Eines Tages war der Mann auf der Brücke verschwunden.

Weshalb der Alte gerade mir alles mir vermacht hat, kann ich bis heute nicht sagen. Ob es nur war, weil er eine meiner Visitenkarten aufgelesen hatte? Die jedenfalls hatte er dem Notar vorgelegt, als er sein Testament machte. Ist aber auch egal. Das Geld kam damals gerade zur richtigen Zeit.

Michael [Hetzner]


[zurück] | blättern | [weiter]

startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum