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Großelterngeschichten 2 | Das Sterben der Großmutter
Julia Eisls Tod war für Franz viel einfacher gewesen. Er hatte keine Verantwortung für sie zu tragen, denn sein Großvater hatte für sie gesorgt. Sein Anteil an ihrem Sterben beschränkte sich auf gelegentliche Besuche im Krankenhaus, ein paar Blumen zum Geschenk in einer Vase neben ihrem Krankenbett. Das Abmagern, das Verschwinden von Julia Wilms war ein Ereignis von Vielen im Ablauf seines Lebens, das er damals noch für ein individuelles, unverwechselbares und letztlich auch unglaublich wichtiges hielt. Sicher mochte er seine Großmutter, denn sie war eine lebenslustige, unkonventionelle und sehr zärtliche Frau. Doch bei ihrem Begräbnis war die Komik, die Angst und die Wut auf all die Trauernden, auf seine Familie und die Leichenesser unausweichlich.
Es war ein grauer, trüber Tag im Juli als die Familie auf dem Friedhof zusammenkam, um den Sarg hinauszubegleiten. Damals war alles, wie es sich gehörte und entsprach doch so wenig der Mentalität der Toten: Kränze, Pfarrer, Orgelmusik, Blumen auf dem Sarg und weinende Hinterbliebene.
Beim Begräbnis wurde Franz erstmals bewusst, wie viele gemeinsame Erinnerungen Julia und ihn verbanden. Julia hatte einen ausgeprägten Unternehmungsgeist, der sich auch auf seine jährlichen Besuche in den Schulferien auswirkte, denn dann erkundeten sie gemeinsam die Stadt. Kein Tag verging ohne einen Ausflug. Julia öffnete ihm die Augen für das, was andere Heimat nannten und für ihn doch nur Wohnort, für den Teil des Praters, wo es nicht Schießbuden, Autodrom und Riesenrad gab, sondern Bäume, Wiesen, Vögel und Spazierwege. Julia zeigt ihm die Innenstadt, den Kahlenberg, die Donauauen, Museen und den Zoo. Nachmittags saßen sie entweder in ihrer Wohnung oder in einem Kaffeehaus beisammen und ruhten sich aus. Während Julia Kaffee trank, genoß Franz seinen Kakao mit Kuchen.
Bertolt [Williamson]
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