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Sie und Er | Eins

Ihre Mutter hat keine Begabung für den Müßiggang. Immer ist sie in Bewegung. Auch jetzt noch, da der Krebs sich seinen Weg durch ihren Körper bahnt, alles auffrisst, was von ihr übrig ist. Ihre Mutter kann keinen selbstgesetzten Arbeitsauftrag liegen lassen, aufschieben. Vielleicht liegt es daran, dass sich an einen aufgesparten Arbeitsauftrag neue Arbeitsaufträge anlegen, wie sich an Wintertagen auf den nicht von Schnee gereinigten Wege neuer Schnee anlegt und der darunter liegende zu hartem Eis erstarrt, bis es kein Fortkommen mehr gibt. Irgendwann wird der Berg so hoch, dass eine Überquerung wie eine Alpenwanderung wäre und dann die Kraft nicht mehr reicht diesen Berg abzutragen. Das calvinistische Arbeitsethos der Mutter wuchert in ihr beinahe so ausufernd wie das marxistische ihres Vaters.
Aber im Gegensatz zur Mutter hat sie begriffen, wer ständig läuft, an dem läuft das Leben irgendwann dann doch auch vorbei. Nur Innehalten und Stillstehen hilft, sich selbst zu erkennen und jene Fremdbestimmung abzuwerfen und die Freiheit zu erlangen, von der ihr Vater immer spricht. Die Mutter ist im Besitz keiner Freiheit. Sie will sie auch nicht, sie wüsste gar nichts damit anzufangen. Freiheit bleibt ihrer Mutter erspart, denn sie verharrt dort, wo das Leben sie hingestellt hat. An die Seite ihres Mannes, in die Mitte ihrer Kinder, für die sie nur selten Lob, aber viel Fürsorge aufbringt. Sie ist immer anwesend, mit einer übermenschlichen Liebe zum Dasein.
Sie selbst kann sich nicht erklären, woher ihre Mutter all die Energie bezieht, von der sie so wenig an sie selbst vererbt hat. An sie, die so kraftlos und von Alltagssorgen gesteuert durch die Tage driftet.



Es ist Zeit. Der Koffer muss gepackt werden. Die Untermieterin wartet schon im Kaffeehaus an der Ecke. Für die Wochen, in denen er sich in Polen aufhält, hat er eine Studentin aus Spanien gefunden, die sich in seiner Wohnung einlebt, während er sich in Warschauer Archiven durch Berge von Papier wühlen wird. Sie wird ihre Unterwäsche in seinen Schubladen lagern, ihren nackten Körper unter seiner Dusche reinigen und Männer in seinem Bett lieben. Manches wird ihm fremd erscheinen, wenn er zurückkehren wird.
So ist es immer, wenn er zurückkehrt in seine Wohnung.
Der Koffer ist schwer. Er schließt die Wohnungstür und steigt langsam die Treppen der vier Stockwerke nach unten. Es regnet leicht, als er auf die Straße tritt. Das Kaffeehaus ist nur von wenigen Gästen besucht. Die junge Frau sitzt in der Ecke unter der großen Uhr, bei der die Sekundenzeiger seit Jahren still stehen. Sie winkt ihm. Sie ist schön. Er tritt zu ihr an den Tisch. Hola, sagt sie. Hallo, antwortet er. Mehr gibt es nicht zu sagen. Alles ist geklärt. Bevor er sich zu sehr in ihr Leben verstrickt, das sie in seiner Behausung nun führen wird, lässt er sie zurück und geht seiner Wege.

Raimund [Bahr]


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