[zurück] | blättern | [weiter] |
Die Macht der Bilder
Der Schriftsteller Max Frisch hat sein Theaterstück "Andorra", wie er selbst sagt, als "Schule des Vorurteils" konzipiert. Die Bildnisthematik nimmt in dem Stück breiten Raum ein. "Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen. Ausgenommen, wenn wir lieben."( Frisch, Max: Tagebuch 1946-1949, suhrkamp tb, Frankfurt am Main 1996, S.32) "In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt... (Frisch: Tagebuch, a.a.O.,S.9)
Viele Bilder bevölkern, ob dem Verstand bewusst oder nicht, den gesellschaftlichen Raum und zementieren Verhältnisse und Gegebenheiten. Denn natürlich lassen sich diese oder jene Befunde über Menschen erheben, selten aber wird nachgeforscht unter welchen Bedingungen diese entstanden sind, worauf diese beruhen. Sehe ich jemanden, der aggressiv ist, kann ich z.B. mit Fug und Recht feststellen, "der Mensch ist aggressiv". Nur das schwache Verb "ist" vermag viele verschiedene Sachverhalte zu benennen: "Jetzt momentan ist er aggressiv." unterscheidet sich wesentlich von: "Er ist von Natur aus aggressiv, Menschen sind eben so, es gehört zur Wesensart des Menschen aggressiv zu sein, wir sind das Endprodukt einer evolutionären Kette, weshalb sollte der Mensch nicht aggressiv sein mit seinen 30.000 Jahre alten Genen." Schlussfolgerungen aus den unterschiedlichen Auffassungen fallen dementsprechend unterschiedlich aus. "Jetzt momentan ist er aggressiv, eigentlich ist er ein Wesen voller Liebe." wird dazu führen nach den Ursachen zu forschen, die Bedingungen abzustellen, die den Menschen quälen, in deren Folge er aggressiv wird. In diesem Fall werden die 30.000 Jahre alten Gene nur als Anlage des Menschen verstanden, fähig zu sein, aggressiv zu werden. "Menschen sind von Natur aus aggressiv." wird zu einer zivilisatorischen Maßnahme führen, das Primitive, Aggressive in dem Menschen zu beugen und seine Wildheit zu zähmen.
Die unterschiedlichen Maßnahmen werden wiederum ganz unterschiedlich auf das Wesen zurückwirken, mit dem ich umgehe. Der, dem ich durch meine Maßnahmen das Bild vermittle, dass er ein liebevolles Wesen habe, wird in irgendeiner geheimen Weise daran anknüpfen können. Der, dem ich durch meine Maßnahmen vermittle, dass er ein aggressives Wesen habe, wird ebenfalls in irgendeiner Weise darauf reagieren. Handelt es sich um ein kleines Kind, dem eine Bezugsperson wiederholt und immer wieder entsprechende Bilder vermittelt, lässt sich vermuten, dass sich umso leichter solche Bilder in das Selbstbild des Kindes einbauen, die ihm am häufigsten angeboten werden. Erwachsene in nicht-strukturierten Zusammenhängen können leichter ausweichen, sich anderswo andere Bilder holen, können auf verfestigte Selbstbilder zurückgreifen. Kinder jedoch werden geprägt. Umso stärker, je jünger sie sind.
Bei Erwachsenen können Bilder dieser Art, die wie Stereotype oder Fertigteilhäuser durch die Gesellschaft geistern, Katastrophales bewirken, wie wir alle an der Geschichte des Antisemitismus (vor allem während der Nazizeit) lernen können, wenn sie sich zu Gruppenvorurteilen formieren, wie irgendeine bestimmte Gruppe von Menschen sei. (Die Juden sind... Die Türken sind... Die Araber sind... Die Männer sind... Buben sind eben... usw.) Bilder dieser Art gibt es zahllose, sie sind ihrem Wesen nach absurd. Förderung der primären Wahrnehmung, Sprachschulung und Rollenspiel möglichst ab der frühen Kindheit können dem abhelfen.
Ein anderer bedeutender Schriftsteller, Bert Brecht, äußerte sich ebenfalls zum Verfertigen von Bildern im zwischenmenschlichen Zusammenhang, auf eine Weise, die bemerkenswert ist: "Der Mensch macht sich von den Dingen, mit denen er in Berührung kommt und auskommen muss, Bilder, kleine Modelle, die ihm verraten, wie sie funktionieren. Solche Bildnisse macht er sich auch von Menschen. Aus ihrem Verhalten in gewissen Situationen, das er beobachtet hat, schließt er auf bestimmtes Verhalten in anderen zukünftigen Situationen. Der Wunsch, dieses Verhalten vorausbestimmen zu können, bestimmt ihn gerade zu dem Entwerfen solcher Bildnisse. Den fertigen Bildnissen gehören also auch solche Verhaltensarten des Mitmenschen an, die nur erschlossene (nicht beobachtete), vermutliche Verhaltensarten sind. Dies führt oft zu falschen Bildern und auf Grund dieser falschen Bilder zu falschem eigenen Verhalten, umso mehr, als sich alles nicht ganz bewusst abspielt... Es kommt viel darauf an, richtiges Schließen zu lernen, aber dies genügt nicht. Es genügt nicht, weil die Menschen nicht ebenso fertig sind wie die Bildnisse, die man von ihnen macht und die man also auch besser nie ganz fertig machen sollte. Außerdem muss man aber auch sorgen, dass die Bildnisse nicht nur den Mitmenschen, sondern auch die Menschen den Bildnissen gleichen. Nicht nur das Bildnis muss geändert werden, wenn der Mensch sich ändert, sondern auch der Mensch kann geändert werden, wenn man ihm ein gutes Bildnis vorhält." (Bertolt Brecht: Notizen zur Philosophie 1929-41. in: Schriften zur Politik und Gesellschaft 1919-56,FfM.1974,S168-170)
Bert Brecht hält drei sehr wichtige Aspekte fest: 1. Es ist dem Menschen gar nicht möglich, ganz ohne Bildnisse auszukommen. Er braucht sie, um mit der Welt sinnvoll umgehen zu können. Es handelt sich um seine Fähigkeit zur Symbolbildung. 2. Bei dem Anfertigen von Bildnissen, besonders, was den Menschen betrifft, entstehen häufig Fehler, weil das Leben, das, was Frisch als das Göttliche in diesem Menschen bezeichnet, grundsätzlich Wandlungsenergie ist, Menschen sich daher auch verändern können. 3. Brecht sinnt daher über die Möglichkeit nach, ob es für Politiker und Künstler, aber auch im privaten Raum, vor allem zwischen Liebenden, nicht sinnvoll wäre, den Menschen ein gutes Bild zu schenken, in das sie hineinwachsen können.
Ich möchte dem noch hinzufügen: Es ist zu vermuten, dass die Bildnisse, die man sich von Dingen und anderen Wesen, auch Menschen macht, nicht nur in die Dinge, sondern auch in die anderen Menschen hineinwirken. Sie wirken umso intensiver, je häufiger sie an das Wesen herangetragen werden. In diesem Wesen werden sie anverwandelt. Je abhängiger und schutzloser das Wesen, umso stärker wirkt sich das Bildnis aus. Eine Reaktionsbildung erfolgt. Das Wesen bildet nun seinerseits eine Wahrnehmung aus, verfertigt ein Bildnis, wie die Welt funktioniert, wie das Gegenüber ist. Es kann dabei zu Prozessen wechselseitiger Verstärkung und Zementierung von Bildern, aber auch zu Bildbrüchen kommen.
Aber alle Bildnisse, die man von der Welt außerhalb verfertigt, stehen auch noch in einem lebendigen Wandlungsprozess mit dem Selbstbild. Erhält ein Wesen vermittelt durch die Umgangsformen der Umwelt positive Bildnisse seines Selbst, wird er auch diese anverwandeln und ich gebe Brecht völlig recht, wenn er meint, dass sich ein Wesen, vor allem ein Kind oder eine Person in einer Liebesbeziehung, zum Besseren entwickelt, je mehr positive Rückmeldungen er erhält. Diese kann es allerdings auch durch den eigenen Austausch mit der Umwelt erhalten. Erlebt das Wesen durch sein Tun Erfolge, z.B. auch im praktischen Handeln, wirkt sich dies ebenfalls positiv auf sein Selbstbild aus. Es kann sich auch selbst positive Rückmeldungen und Bestätigungen geben. Ja, sein zugrundeliegendes Bild über seine Rolle und Aufgabe in der Welt kann wiederum Entscheidendes verändern: Hätte Paulus sich für einen umherziehenden Teppichweber gehalten, hätte er sicher nie diese Wirkungsmacht erreicht. Und welches Selbstbild hatte Brecht, dass er es schaffte in all der Zeit der Verfolgung und im Exil weiterhin so produktiv zu sein? Auf jeden Fall ist es ihm gelungen mit Hilfe seines Selbstbildes zu handeln, mit diesem Handeln, seinen Werken, andere zu überzeugen, die ihm sein zugrundeliegendes Welt- und Selbstbild verstärkten trotz aller Kritik und Ablehnung.
Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Die moderne Wissenschaft hat uns nun hinlänglich überzeugt. Das System: Hier Beobachter, dort fein säuberlich getrennte objektive Außenwelt funktioniert nicht. Allein durch unsere Beobachtung verändern wir die Welt, umso mehr durch unser Handeln. Die Welt ist ein System von wechselseitigen Bezügen. Vor allem in Bezug auf Menschen steht das Erstellen von Bildnissen tatsächlich im Sinne Frischs im Gegensatz zur Kraft des Lebendigen in diesem Menschen, dem ich durch mein Bildnis etwas antue, etwas hinzufüge, ob positiv, ob negativ. Objektiv wahrhaftige Bildnisse gibt es nicht. Es gibt Beschreibungen von Abläufen. Die Blackbox bleibt immer, aus welchen Quellen sich das Verhalten dieser oder jeder Person jeweils speist. Mein positiver Beitrag kann bestehen, etwas Gutes zu unterstellen im Brechtschen Sinne, also dem anderen ein produktives Bild für sein Selbst anzubieten, was auch immer er damit macht.
Viel Meinungsstreit in unserer Gesellschaft beruht im Kern auf einem Streit dieser Bildnisse von der Welt, die jeder Einzelne mit sich herumträgt. Die Bildnisse sind Bestandteil verschiedener Gruppierungen wie Religiöse, Konservative, Heimattreue, einzelner Ethnien usw. Es handelt sich beinahe um interkulturelle Probleme innerhalb einer Gesamtkultur. Denn diese Gruppierungen weisen zusammenhängende Bildwelten in Bezug auf das, was wirklich ist und wie sie sich demnach sinnvoll in der Welt bewegen sollen, auf. Wechselseitige Machtansprüche und Kämpfe werden daran nichts ändern können, denn die Bildwelten sind sehr machtvoll und wirken sich in den Alltag hinein aus, erzeugen selbst Realität. Vielfach fehlen die positiven Bildnisse von Welt, positive Bildnisse, die wir den Kindern und Jugendlichen anbieten können, und die uns selbst bereichern.
Marianne [Peternell]
[zurück]
| blättern |
[weiter]
startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum |