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Das Schweigen der Gedanken

In seiner Zelle war es Beatus Hoffer schließlich gelungen, seine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Es war äußerst knapp gewesen, denn die Wächter hatten bereits die Gittertür geöffnet und ihm Hand- und Fußschellen angelegt. Nach langen Jahren der Meditation hatte Beatus, genannt Beat, den unaufhaltsam erscheinenden Strom der Gedanken endlich zum Erliegen bringen können.

Zwei Wächter schieben den Todeskandidaten langsam aber energisch durch den Korridor, Beats orangefarbener Overall leuchtet im Licht der aufgehenden Sonne, die den Gefangenentrakt des San Quentin State Prison umfängt.

Beat sieht den Eingang des quadratischen Raums, in dem er die Giftinjektion erhalten wird. Doch er bleibt ganz ruhig und konzentriert sich auf den, wie sein Lehrer es ausdrückt, heiligen Kern in seinem Inneren. In mir wohnt die Ewigkeit, in mir strahlt die Sonne der Wahrheit, mein Kern ist unantastbar, denkt Beat und verabschiedet sich in Gedanken von seinem Mentor, einem mexikanischen Schamanen.

Dem Stress im Gefängnis entging Beat auf wundersame Weise, lebte er doch als Einzelgänger. Dieser Luxus ist nur wenigen Gefangenen möglich, denn als Individuum vermag man hinter Gittern nicht zu überleben, eigentlich. Am Anfang seiner Unterbringung in San Quentin wurde Beat von den Gangs behelligt, beinahe trat er der Aryan Brotherhood bei. Dann kamen die Mexikaner auf ihn zu, boten Beat an, sich ihnen anzuschließen, um seinen Schutz zu gewährleisten. In den Neunzigern befolgte Beat noch die Regeln der Muerte-Gang, aber bald war er die stumpfe Gewalt leid. Er suchte nach Frieden, Ruhe, Innerlichkeit. Beat begann, hinduistische Schriften zu lesen, auch buddhistische, christliche und kabbalistische. Als Beat eines Tages herausgefunden hatte, dass Erlösung nur auf dem Weg des Schweigens zu erfahren war, tauchte beim morgendlichen Hofgang dieser indianisch aussehende Neuankömmling auf.

Der Gefangene, dessen glatte, pechschwarze Haare zu einem Zopf geflochten waren, wurde von den Gangmitgliedern vollends in Ruhe gelassen. Begegnete er einem Mithäftling, so verneigte sich dieser ehrfürchtig und ging dem geheimnisvollen Mann aus dem Weg. Es herrschte überall im Gefängnis das Gebot der Unantastbarkeit. Dies galt indes nur für Personen, die sich durch besondere Taten ausgezeichnet hatten. Zumeist handelte es sich dabei um besonders brutale Individuen.

Aber von Carlos, so sein Name, ging nichts Gewalttätiges oder Blutrünstiges aus, im Gegenteil. Und doch umgab Carlos eine unsichtbare Mauer, die ihn schützte. In der Hierarchie der Gefangenen stand Carlos entweder ganz oben, oder er nahm einen Sonderstatus ein. Da war sich Beat zunächst nicht ganz sicher. Was hatte es mit dem hochgewachsenen, sehnigen Kerl auf sich, fragte sich Beat.

Eines Morgens trat Carlos auf Beat zu und sprach unvermittelt die Worte: "Wenn sie dir das Gift geben, ist es längst zu spät, du musst schon vorher gegangen sein."

Beat rätselte jahrelang über die Bedeutung des Satzes, der ihn schließlich erlösen sollte. Dann kam die Erleuchtung, urplötzlich und mit unerwarteter Wucht. Es geht um die Trennung von Leib und Seele, erkannte Beat und teilte Carlos seine Erkenntnis mit. Fortan erhielt er jede Woche ein neues Buch von dem Mexikaner, der für die Gefängnisbücherei arbeitete. Zuerst las Beat die Philosophia perennis von Aldous Huxley, dann die Bhagavad Gita und Platons Politeia, aber auch eine Rede, die David Foster Wallace ein Jahr vor Beats Hinrichtung am Kenyon College gehalten hatte.

Langsam setzte sich der Gehalt der Schriften zu einem großen Ganzen zusammen, jetzt ergaben Beats Lebenserfahrungen einen Sinn. Im Oktober 2006, Präsident George W. Bush hatte soeben ein Gesetz zum Ausbau der mexikanischen Grenze unterzeichnet, wartete Beat auf die kurz bevorstehende Vollstreckung der Todesstrafe. Carlos überreichte seinem Schüler einen Zettel, auf dem ein Mantra niedergeschrieben war. Es lautete: Das Schweigen der Gedanken. Beat sollte diese Worte immerzu wiederholen, bis sie Wirklichkeit geworden waren, so Carlos´ Anweisung.

Und tatsächlich gelang es Beat endlich, Ruhe in seinem Kopf zu schaffen. Die erste Lektion hatte darin bestanden, die Zunge zu kontrollieren und vom Geschwätz Abstand zu nehmen. Diese Stufe hatte Beat mit Leichtigkeit gemeistert, war er doch nie ein Freund der herablassenden Rede gewesen. Seine Wünsche und Bedürfnisse zum Schweigen zu bringen, die zweite Aufgabe, war ihm äußerst schwer gefallen. Denn stets hatte er sich gewünscht, dass er am Leben bleiben und seine Unschuld beweisen könne. Sicher, dachte er, ich habe diesen Mann erschlagen, aber erst nachdem er mich so schwer verletzt hatte, dass keine andere Möglichkeit mehr bestand.

Sein Bedürfnis nach Wahrheit war stark ausgeprägt und durch die Lektüre der vergangenen Jahre noch größer geworden. Doch schließlich wurde Beat klar, dass er nicht in Frieden würde gehen können, wenn er an seinen Wünschen und Bedürfnissen festhielt. Immer wieder repetierte er das Mantra und erreichte eine Woche vor seiner Hinrichtung die meisterhafte Stufe der Wunsch- und Bedürfnislosigkeit. Carlos gratulierte ihm, wies aber sogleich auf die Notwendigkeit hin, die dritte und letzte Stufe, das Schweigen der Gedanken zu realisieren.

"Wenn du vollkommen still geworden bist", so Carlos, "wirst du dich bereits verabschiedet haben, bevor das Gift dich töten kann."

***

Tränen traten Beat in die Augen, als er auf die Bahre geschnallt wurde. Dann besann er sich auf sein Mantra und versank in einer tiefen Meditation.

Zuerst wurde das Barbiturat Thiopental in seinen Blutkreislauf gespritzt, welches für die Bewusstlosigkeit sorgen sollte.

Die zweite Komponente der letalen Injektion, ein Muskelrelaxans, lähmte neben Beats Skelettmuskeln auch seine Atemmuskulatur. Als das den Herzstillstand verursachende Kaliumchlorid verabreicht wurde, geschah etwas, was die Zuschauer und die Beamten von San Quentin gleichermaßen schockierte. Beats Körper begann zu brennen und verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit in einen Aschehaufen. Niemand vermochte zu sagen, wie das Feuer entstanden war. Eine Reinigungskraft säuberte am späten Morgen die gummierte Oberfläche der Hinrichtungsbahre und entdeckte ein ihr bereits bekanntes Schriftzeichen. In das Gummi eingeprägt war folgendes Symbol: आकाश

Dasselbe Zeichen hatte die Frau an der Zellenwand oberhalb von Carlos´ Schlafpritsche gesehen. Den leblosen Leib des mexikanischen Schamanen hatte man erst gefunden, als er bereits in Flammen gestanden und so den Feueralarm ausgelöst hatte.


Jens Philipp [Gründler]


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