[zurück] | blättern | [weiter]


Tradition und Invention

Die Filme Luchino Viscontis haben mir das Reich der Literatur eröffnet. In seinem Artikel Traduzione ed invenzione schreibt der italienische Regisseur: Für jemanden, der aufrichtig an das Kino glaubt, ergibt es sich angesichts dieser Situation von selbst, sehnsüchtig auf die großen erzählerischen Konstruktionen der Klassiker des europäischen Romans zu blicken und sie als die heute vielleicht wahrhaftigste Quelle der Inspiration zu betrachten. Visconti verfilmte Bücher von Giovanni Verga, Fjodor M. Dostojewski, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Gabriele D’Annunzio und Thomas Mann und beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit dem Werk des deutschen Schriftstellers aus Lübeck und auch mit jenem von Marcel Proust.

Als Teenager hat mich die Verfilmung von Der Tod in Venedig zur Novelle von Thomas Mann greifen lassen. Das Buch hat mich derart gefesselt, dass ich es mehrmals las und sogar manche Absätze abschrieb und auswendig lernte.

Das lässt an das Skriptorium in den Klöstern des Mittelalters denken. Der Benediktinerabt Johannes Trithemius meint in seinem Werk Zum Lobe der Schreiber, dass das handschriftliche Kopieren von Texten die den Mönchen angemessenste und förderlichste Arbeit sei und es auch nicht der Druckkunst wegen aufgegeben werden sollte, Denn was wir niederschreiben, prägen wir dem Geist stärker ein, weil wir zum Lesen und Schreiben Zeit nehmen müssen.

Durch das Abschreiben von Teilen einer Novelle oder einer Erzählung und das Auswendiglernen von Gedichten bekam ich ein Gefühl für Rhythmus und Form, schulte ich mich an verschiedenen Sprachmelodien oder an dem Aufbau einer Geschichte. Das handschriftliche Duplizieren von Klassikern – von Thomas Mann über Peter Handke bis F. Scott Fitzgerald – war, ohne zunächst selbst kreativ zu werden, meine Ausbildung zum Schriftsteller. Ich ging in meiner Lernmethode ähnlich vor wie ein Schauspieler, der einen Text von Shakespeare oder Goethe für die Bühne einstudiert, und diese Art von Einverleibung verbindet mich auch heute noch mit diesem Beruf.

Die intensive Auseinandersetzung mit Büchern anderer Autoren ist auch für meinen eigentlichen künstlerischen Schaffensprozess von Bedeutung. Vittorio Magnago Lampugnani stellt in seinen unter dem Titel Die Modernität des Dauerhaften versammelten Essays fest, dass es dem Künstler der Postmoderne – und wohl auch jenem der Spätmoderne – nicht mehr gegeben ist, sich unbekümmert ans Werk zu machen. Er muss die Tradition kennen, gleichsam durch sie hindurchgegangen sein. Meine Erzählung Der Zeichenfänger ist zum Teil eine bewusste Weiterführung von Elementen aus dem Œuvre von Peter Handke, speziell aus Der Chinese des Schmerzes. Freilich besteht in der Beschäftigung mit der Tradition die Gefahr, dass der Einfluss eines bestimmten Autors oder eines bestimmten Buches zu groß wird, einen die geistige Vergangenheit erdrückt. Es gab auch immer wieder Momente, vor allem zu Beginn, in denen ich mich befreien musste. Da konnte es schon passieren, dass ich das Werk eines berühmten Vorgängers in den Mistkübel warf. Harald Bloom hat über diesen Umstand ein ganzes Buch geschrieben und darauf eine Theorie der Dichtung gegründet: Einflussangst.

Dramatischer Höhepunkt in Der Chinese des Schmerzes ist die Szene, in der die Ich-Figur einem auf Felsenwände Hakenkreuze sprühenden Mann einen Stein auf den Kopf wirft. Ich habe das übernommen und ließ auch meinen Protagonisten einem Passanten, der zuvor eine asiatische Frau beschimpft hatte, einen Stein gegen die Stirn schleudern.

Manche Elemente habe ich aber nicht so bewusst in mein Werk integriert. Der Germanist Hans Höller wies in seiner Einführung in der Rupertus Buchhandlung im November 2006 darauf hin, dass das Nachsinnen meiner Hauptfigur über eine japanische Mistbox, auf die sie zu Beginn der Erzählung in einem Außenbezirk von Wien trifft, als Parodie von Versuch über die Jukebox zu interpretieren sei. Freilich hatte ich auch dieses Buch von Handke gelesen, aber beim Verfassen nicht dezidiert daran gedacht.

Bei meinem anschließenden Roman Der Zurückgekehrte stand nicht sosehr Peter Handke, sondern Hugo von Hofmannsthal Pate, beziehungsweise wurde da auch die Überlieferung außereuropäischer Literatur, nämlich der japanischen bei mir wirksam. Durch die Lektüre Ursprünge der modernen japanischen Literatur von Karatani Kôjin, das nicht nur von Büchern handelt, sondern generell über die tragreichen Veränderungen in der japanischen Gesellschaft während der raschen Modernisierung des Landes, wurde ich auf die Konzeption von Landschaft und auf die Subjekt-Objekt-Spaltung im Zusammenhang mit den Werken des japanischen Schriftstellers Kunikida Doppo aufmerksam. Von Karatani Kôjins Ausführungen inspiriert, fasste ich den Plan zu einem Roman, in dem die Natur beziehungsweise die Wahrnehmung derselben thematisiert werden sollten. Ich kreierte relativ schnell die Figur des Übersetzers, die das Werk von Kunikida Doppo ins Deutsche überträgt und während der Übersetzertätigkeit über die Unterschiede von Ost und West nachdenkt. Jedoch fehlte mir vier Jahre lang der Anfang und die eigentliche Grundstruktur des Romans. Als ich dann im Juni 2009 unter dem Titel Die Erschaffung der Welt einen Aufsatz von John Berger las, wurde ich darin auf Die Briefe des Zurückgekehrten von Hugo von Hofmannsthal verwiesen. Und sofort lösten sich die Verknotungen in meinem Gehirn. Es war mir sofort klar, dass mein Held unter der gleichen Problematik leiden musste wie jener aus Hofmannsthals fiktiven Briefen, und ich machte mich – in der literarischen Tradition verankert – an die Arbeit und stellte die Erstfassung des Romans in dreieinhalb Monaten fertig.

Ich habe alle Spielfilme von Luchino Visconti gesehen – manche sogar mehrmals – und auch alle literarischen Vorlagen und zum Teil die Drehbücher gelesen. Neben Der Tod in Venedig haben mich das Leinwandepos über den Bayernkönig Ludwig II., aber auch die neorealistische Arbeit Die Erde bebt sehr angesprochen. Letztlich gefielen mir alle seine Filme. Meine Begeisterung für den Regisseur ging so weit, dass ich nach Ende meines Studiums von Salzburg nach Mailand zog. Die Viscontis stellten einst die Fürsten der Stadt. Das berühmte Familienwappen, das das Bild einer Schlange, die einen Menschen verschlingt, zeigt, ist auch das Wappen von Mailand. Ich verfolgte die biographischen Spuren meines Vorbildes aber nicht nur in der lombardischen Hauptstadt, sondern besuchte an den Wochenenden auch den Stammsitz seiner Väter Grazzano Visconti in der Provinz Piacenza und die Villa Erba in Cernobbio, ein Besitz der Familie seiner Mutter am Ufer des Comersees.

Nach meinem Aufenthalt in Italien übersiedelte ich im September 1997 nach Wien, wo ich zum Schriftsteller reifte – jedenfalls habe ich dort meine ersten zwei Bücher verfasst.

Tradition und Invention ist eine, vielleicht sogar die Formel meiner Poetik. Meine eigenen persönlichen Erlebnisse sind ein wichtiger Bestandteil der Invention. Ich versuche sie im Spiegel der Tradition von Kunst und Philosophie zu reflektieren und in Verbindung mit derselben literarisch zum Ausdruck zu bringen.

Eine andere Art von kreativer Auseinandersetzung mit der Literatur der Vergangenheit wird in Japan seit dem Mittelalter gepflegt. Sie nennt sich Gedicht-Kopfkissen. Ein Dichter sucht bewusst einen Ort auf, der schon von jemandem vor ihm besungen worden ist und dadurch Bekanntheit erlangt hat. Die Verse seines Vorgängers dienen ihm für sein eigenes Schaffen als Stütze, als Kopfkissen. Dabei geht es nicht darum, die alten Meister nachzuahmen, sondern danach zu suchen, wonach sie suchten, wie der berühmteste Dichter Japans, Matsuo Bashô, in einem Brief an einen seiner Schüler anmerkte.

Während des Verfassens meines Romans Der Zurückgekehrte habe ich bewusst den Morzger Wald in Salzburg aufgesucht, um über ihn zu schreiben, den Peter Handke zuvor schon in seinem Buch Die Lehre der Saint-Victoire verewigt hat. Es macht die Stärke eines Schriftstellers aus, dass sich die Leserinnen und Leser ermuntert fühlen, jene Örtlichkeiten und Landschaften aufzusuchen, die er in seinen Texten beschrieben hat.

Peter Simon [Altmann]


[zurück] | blättern | [weiter]


startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum