[zurück] | blättern | [weiter]


PIS | Poller im Schatten [Auszüge]

⁙41⁙
In der Sendung für experimentelle Musik / probiert jemand Geräusche an einem Fensterflügel aus / der Zuhörer ist aufgerufen / zuvor ein Windows-Update zu machen / das Gehör soll aus den Angeln gehoben werden / das lyrische Ich ist heute / mit viel Scheiße im Darm befüllt / als es sich wie täglich um diese Zeit / an das Tablet setzt und etwas Lyrik schreibt

⁙42⁙
An der Kasse der Andreas-Hofer-Apotheke / müssen wir kurz warten / bis der Logistik-Roboter / die Medikamente aus den Regalen geholt / und in den Ausgabemund transportiert hat / wir überbrücken die Zeit / mit den allseits berüchtigten Chinesen-Witzen / wonach etwas aus China kommt und verseucht ist / wenn man darauf warten muss / am Zwanzigsten einen Heldengeburtstag zu feiern / gilt allgemein als rechtsradikal / im Falle von Andreas Hofer muss man sich das gefallen lassen / er war ja nun wirklich kein Roter / sondern hat diesen nur getrunken / ehe er pünktlich am Zwanzigsten / hingerichtet werden konnte mit Fehlschüssen / ach wie schießt ihr schlecht

⁙43⁙
Die LED-Lampen verrecken / wie früher die Glühbirnen / die Resilienz wird ungeniert ausgehebelt / das wäre ja kein Wirtschaften / wenn jemand mit einer einzigen LED / durch sein ganzes Leben käme / man wüsste nicht / was Dunkelheit ist / jede kaputtgegangene LED / leuchtet dir den Weg auf den Friedhof / Ror Wolf / nach allerhand Übersiedlungen über Mainz: / "Ich habe die Stadt / vor allem aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verlassen!" / in Innsbruck müssen alle aus gesundheitlichen Gründen eingeklemmt sein / Erlösung gibt es nur über den Song / "Innsbruck ich muss dich lassen!"

⁙45⁙
Der Langläufer weint / als er das Ziel erreicht / der Dichter weint / als das Gedicht fertig ist / das Normale kann große Freude auslösen / wenn es selten gelingt / das lyrische ich geht zunehmend / in die Drohnen-Perspektive über / der Kinderarzt begleitet / die eigenen Kinder in den Kindergarten / in einer halben Stunde wird er nach Dienstantritt / fremde Kinder in den Kinder-OP begleiten / "Du musst als Vater und Arzt gleich emotionslos sein / will das Werk an den Kindern gelingen!"

⁙46⁙
Graz / endlich nach dem Abfahren dreier Straßenbahnlinien / gibt es vor dem Terminal der Schlossbergbahn / auf dem Weg nach Andritz eine Fahrscheinkontrolle / in jeder Stadt erfährst du durch diesen Vorgang / mehr über das Gemeinwesen / als es in einem Prospekt Platz hätte / die Kontrollorin ist bestens geschult und sehr selbstsicher / so stellt man sich eine Fachhochschulabsolventin vor / die es durchaus mit einer resoluten Altlast / aus dem humanistischen Gymnasium aufnimmt / die beiden ausgemachten Sünderinnen um die sechzig / kommen vom Innenstadt-Shoppen / sie könnten Hofratsfrauen oder -witwen sein / ihre Spezialität ist jedenfalls die Intervention / und das Vorschieben einer männlichen Instanz / sie werden sich selbstverständlich bei der Zentrale melden / jetzt gilt es einmal siebzig Euro abzulegen / die Ausrede ist nämlich mäßig / wonach man mit einem einzelnen Streifenticket / zwei Personen befördern könnte /

⁙47⁙
Im Kastner und Öhler hängen Senioren-Schuhlöffel / mit denen man sich im Sitzen oder Liegen / die Schuhe anziehen kann / sehr praktisch / weil das Rückgrat geschont wird / indem man es ausschalten kann /während man vorgibt / sich zu bücken / Frage nach der Kundenkarte / "Nein / ich warte damit / bis Kastner und Öhler im Herbst nach Innsbruck kommt!" / dieser Besuch hier dient einzig dem Verlangen / etwas Grazerisches zu erleben / die Straßenbahnlinie nach Mariatrost / endet mit einem Straßenbahnmuseum / im Nebel klettern Baumstrünke / durch die Vorgärten der schmalen Siedlungen / die wie zum Schmuck einer Kleinbahnanlage errichtet sind /überall ist Wald zu erahnen / die Hunde sind sauber mit Gassisäcken unterwegs / die Kinderspielplätze gleichen Tastaturen / auf denen die Kids von Morgen / die Videogames spielen / Hofräte zupfen an den Vorhängen / ehe sie mit weiten Wollhosen ins Freie springen / um an einem Seniorenhandy die Krankheiten der Nachbarn abzufragen / Gutebesserung allenthalben / am Ende ist die Garnitur dann voll / wenn sie in den weltberühmten Jacominiplatz zum Umsteigen einbiegt / am Jacominiplatz musst du einfach umsteigen / um Graz zu begreifen!

⁙48⁙
Epidemien sind dazu da / das chaotische Alltagsgeschehen in einer großen Erzählung zu bündeln / in Graz sind überall Zeichen der bevorstehenden Epidemie zu sehen / der obligate Chinese checkt mit Mundschutz im Daniel ein / der Kebab-Man niest / nachdem er bei der Bestellung / das Wort "Lamm" gehört hat / sein Kollege muss mit der Fleischrasur fortfahren / damit dieser noch halbwegs Epidemie-koscher bleibt / in der Bahnhofspassage hat eine Snack-Bude / wegen Grippe geschlossen / man mag sich nicht ausmalen / demnächst darin etwas zu bestellen / laut Netz ist das Wuhan-Virus mittlerweile in Venetien und der Lombardei eingerückt / und tatsächlich: /Am Stations-Display in Wörgl / ist der Eurocity nach München gecancelt / die Story kriegt einen fetten Plot

⁙49⁙
Ich bin der Zero-Leser / der alle im Land angesteckt hat / wie ein Nackenschlag trifft der sinkende Kurs die Börsianer / die aus Verdruss / allesamt das geächtete Nackensteak bestellen / die Weltrekorde zum ältesten Mann der Welt / purzeln im Zehntage-Rhythmus / soeben ist ein Japaner mit 112 gestorben / der nächste Rekordler wird ihn nur / um ein paar Tage überleben / weil die Rekorde steil nach oben gehen / bis ich in die Weltrekordzone komme / muss ich wohl 140 werden / so um 2093 herum / da schaue ich mir noch Gretas Weltuntergangsszenario / in Echtzeit an / und nehme bei guter Laune / gleich die ganze Welt mit ins Jenseits / Tussi vom ORF-Tirol: / "Ja, die Schneeglöckchen müssen ihre Köpfchen heute noch einziehen."

⁙50⁙
"Christus am Ölberg ist noch ausständig!" / auf Ö1 gibt es Schrammel-Musik zum Beethoven-Jahr / in diesem Sender gibt es nur aufgesetzte Metasprachen / aber kein Fundament für eine Realität / das ist vielleicht der Zuhörer / der fürs erste einmal seine Realität unterbrechen muss / um diesen Metaebenen / halbwegs mit Sinn zuhören zu dürfen / "Schaltjahr / speichern nicht vergessen!" / bei alten Chronometern denkt man oft / an die Kuckucksuhr mit ihrem Geplärre / richtig alt sind aber jene Junghans-Wecker / die in ihren ersten digitalen Auszuckungen / regelmäßig am Schaltjahr scheitern / und im Museum mühsam neu angeworfen werden müssen

⁙51⁙
Ab einem gewissen Alter / gehst du am besten / als dein eigener Museumswärter durch die Tageszeiten / die einzelnen Tablets müssen mit verschiedenen Techniken / untereinander bespielt werden / da sie nicht kompatibel sind / manche derpacken das simple Schaltjahr nicht / andere haben noch nichts / von der lokalen Fahrplan-App gehört / die Menschen kuscheln sich um das Landesinnere herum / und fragen ängstlich / wie bald das Virus da sein wird / noch hält der Flüchtlingszaun an der Grenze stand / aber allenthalben wird das Tränengas knapp


Helmuth [Schönauer]


[zurück] | blättern | [weiter]


startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum