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litera[r]t
[heft 5] [märz 2012] wien - st. wolfgang
Mutter schläft nie
Werner Rohner
Kurz nachdem ich sprechen gelernt hatte, bat ich Mutter um eine ältere Schwester. Als ich einsah,
dass es dafür bereits zu spät war, bat ich sie um einen jüngeren Bruder. Statt eines Bruders, kaufte Mutter einen Fernseher.
Ein paar Jahre später, in der Schule, erzählten meine Kameraden, sie hätten einen Fernseher und eine Schwester
und einen Bruder. Wieder ging ich zu Mutter und fragte sie, warum ich das nicht hatte. Sie begann zu weinen.
Es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah. Und, wenn ich mich richtig erinnere, auch das erste Mal, dass
mir klar wurde, keinen Vater zu haben. Als sie mit Weinen aufhörte, bat ich sie um einen Vater, eine Schwester
und einen Bruder. Ich fragte nicht, ob wir den Fernseher auch behalten könnten, aber ich hoffte es.
Am darauffolgenden Sonntag gingen wir das erste Mal zur Kirche. Alle sangen gemeinsam oder schwiegen gemeinsam.
Mir gefiel das, aber Mutter durfte nicht rauchen, und so ließen wir es bald wieder bleiben. Über meinen Vater
sprachen wir nicht mehr. Jedenfalls nicht, bis Mutter, ein paar Jahre später, heraus fand, dass sie bald sterben würde.
Wir saßen vor dem Fernseher. Meine Mutter rauchte wie immer. Sie sagte: Es tut mir leid, und drückte ihre
Zigarette aus. Dann wartete sie. Ich wartete auch. Irgendwann sagte sie: Sterben müssen wir alle. Dann zündete
sie sich wieder eine Zigarette an und hustete. Sie hustete wie immer, aber dieses Mal klang es krank. Sie schaute mich an,
ihre Wangen wurden vom Husten ganz rot. Sie sagte: Wenn ich noch zehn Jahre weiter rauchen könnte, wäre ich zufrieden.
Ich weinte nicht. Ich dachte, das wäre ich ihr schuldig. Das Gegenteil dachte ich auch.
Als ich am nächsten Morgen auf meinem Marmeladenbrot rumkaute, fragte sie mich nach meinem Vater. Ich wusste nicht was
sagen, und genau das sagte ich ihr. Sie fing an, mir Geschichten über ihn zu erzählen. Ich hörte ihr zu, wie sie tief
Luft holte, wie sie rauchte; ihren ungewohnt vielen Worten, manchmal sogar ihrem Lachen. Die meiste Zeit wandelte sich
ihr Lachen in ein Husten.
Dann lag Mutter unter Glas. Ihr Gesicht war weich und weiß. Nie zuvor hatte ich sie schlafend gesehen, dachte ich, und
dass die Kerze am Ende des Sarges viel zu laut flackerte. Irgendwelche Leute umarmten mich. Ich weinte nicht. Dieses Mal
wusste ich nicht weshalb.
Als ich nach Hause kam lief der Fernseher noch, und Mutter war nicht da. Im Sportstudio zeigten sie wie Hertha verlor.
Ich schleuderte die Fernbedienung gegen das Gerät. Außer einem hohen Knall geschah nichts. Es ist nur ein Spiel, hatte
Mutter immer gesagt. Ich hob die Fernbedienung wieder auf. Bevor ich sie erneut werfen konnte, klingelte das Telefon.
Es war schon spät, so spät hatte das Telefon noch nie geklingelt. Ich hob nicht ab. Meine Tante stand plötzlich im
Türrahmen, das Klingeln musste sie aufgeweckt haben. Sie trug Mutters grünes Nachthemd. Geh schlafen, sagte sie, du
musst traurig sein.
Eine Woche später ging meine Tante wieder. Sie hatte ihre eigene Familie. Am selben Tag wurde ich abgeholt von einer
Frau, die ich nicht kannte. Nun lebst du bei uns, sagte sie. Außer ihr war niemand im Auto. Am Rückspiegel baumelten
ein Kruzifix und ein Foto. Auf dem Foto sah man die Frau, nur dünner, neben ihr standen ein Junge und ein Mädchen.
Mach dir keine Sorgen, sagte die Frau. Es klang nett. Fast zu nett. Als wäre ich noch immer ein Kind.
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