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[heft 4] [dezember 2011] wien - st. wolfgang
Bangladesh
Manfred Chobot
Von Bangladesch, dem "Land der Bengalen", wie die Übersetzung lautet, hört man in den Nachrichten immer dann, wenn wieder einmal
eine Flutkatastrophe den erst seit 1971 selbständigen Staat heimgesucht hat, denn der Deltabereich der Flüsse Ganges und Brahmaputra
nimmt einen Großteil des Landes ein. Selbst die im Zentrum gelegene Hauptstadt Dhaka liegt nur sechs Meter über dem Meeresniveau.
Als Reiseziel für Urlauber und Touristen ist Bangladesch eher ein blasser Fleck auf der Landkarte. Lediglich Investoren verirren
sich in geschäftlicher Absicht dorthin. Denn Bangladesch verspricht, sich in absehbarer Zeit zu einem lukrativen Standort für
Geschäfte zu entwickeln. Auf einer Fläche, die doppelt so groß ist wie Bayern, oder etwas kleiner als zwei Mal Österreich,
leben 144.000 Millionen Menschen. Täglich werden es mehr. Bangladesch ist der am dichtesten besiedelte Staat der Welt.
Sobald man das Flugzeug verlassen hat, erlebt man, was Menschenmassen sind. An das Förderband zu gelangen, um den Koffer in
Empfang zu nehmen, erfordert fortgeschrittene Fähigkeiten in der Ellbogentechnik. Selbstbewusste Anzug- und Krawattenträger
erachten sich für privilegiert. Tatsächlich sind sie es. Über die Rangordnung der Kleidung werden wir erst später aufgeklärt.
Eingekeilt zwischen Menschen, übt man sich in Geduld und Gedränge. Bis die Koffer angelangt sind, wäre man bis nach Dubai
geflogen, jedoch von dort sind wir soeben gekommen. Wegen morgendlichen Bodennebels konnten etliche Flugzeuge erst verspätet
landen. Viele der Reisenden sind Heimkehrer von ihrer Hedschra. Heutzutage "hatscht" man nicht mehr zu Fuß nach Mekka, sondern
setzt sich in ein Flugzeug, um ans Pilgerziel zu gelangen. "Pro Person ist nur ein Handgepäck erlaubt", wiederholt die
Ansagerstimme gebetsmühlenartig. Niemand kümmert sich darum, dass so mancher Pilger eine gesamte und womöglich erweiterte
Stereophonie mit sich schleppt. Samt allem Zubehör, das unvermeidlich dazugehört: Zigaretten und Schokolade, Düfte und Kinderspielzeug.
Bangladesch ist ein durchwegs islamischer Staat und radikal alkoholfrei. Das Wochenende fällt am Freitag und Samstag. An
Sonntagen wird gearbeitet. Dass halbwüchsige Mädchen auch am Wochenende in den Textilfabriken arbeiten, nehmen fundamentale
Islamisten stillschweigend hin. Immerhin ernähren sie dadurch ihre arbeitslosen Familienmitglieder. "Kinderarbeit" erhält in
diesem Zusammenhang einen differenzierten Stellenwert.
Einige ältere Männer haben Haare und Bart hennarot gefärbt. "Das sieht toll aus", begeistert sich Dagmar. "Du solltest deinen
Bart und die grauen Haare auch rot färben lassen." (Fettnäpfchen Nr. 1.) "Sieht echt cool aus. Das wäre ein neuer Mode-Akzent
für ältere Männer. Wir werden uns erkundigen, wo ein Friseur dich umfärbt." Daraus wurde allerdings nichts, denn hennarot
gefärbtes Haar signalisiert, dass jener Mann in Mekka war, demnach ein islamischer Pilger ist. Mit Herumgerede und peinlichem
Schweigen ließ sich ermitteln, dass ich definitiv kein Pilger bin.
Erstaunlicherweise funktioniert das heimische Handy. "Ja, er warte in der Lobby auf uns." (Wie konnte ich nur einen Augenblick
daran zweifeln?) Die Stimme meines Freundes Aminur Rahman klingt völlig entspannt. Dass er und seine Frau Bilkis bereits vier
Stunden in Kauf nahmen, ist keiner Erwähnung wert. Während Pilger neben der Herrentoilette Teppiche ausbreiten und in den
Waschbecken ihre Füße säubern, harren wir der Ankunft unserer Koffer. Irgendwann lässt sich das Pinkeln nicht mehr aufschieben;
meine Füße erachte ich als sauber genug.
Schließlich schiebe ich das Kofferwägelchen hinaus, erblicke bereits Aminur und Bilkis und erhebe die Grußarme. Ein
hemdsärmeliger Mann drängt sich an mein Koffergefährt, macht sich erbötig, es zu übernehmen. Ein Taxifahrer oder sonst
jemand, der seine Dienste aufdringlich anbietet? Unwirsch lehne ich ab, kann mein Gefährt selbst steuern. (Fettnäpfchen Nr. 2.)
Aminur winkt hektisch: Dieser Mann sei beauftragt, unser Gepäck in Empfang zu nehmen.
Eine herzliche Begrüßung. Hände schütteln und freundschaftliches Schulterklopfen mit Aminur. Küsschen links und rechts für
Bilkis, der mir von deren Besuch in Wien bekannten Ehefrau von Aminur. (Fettnäpfchen Nr. 3.) Bis mir die Regel einfällt, dass
es verpönt ist, eine Frau mit einem Kuss zu begrüßen, ist es bereits zu spät. Der Mann ist mit der Aufgabe betraut, unsere Koffer
zu transportieren. Aminur und Bilkis holen ihre beiden Gäste Dagmar und Manfred vom Flughafen ab. Samt Handgepäck.
"Natürlich seid Ihr unsere Gäste", hatte Aminur in einem Mail geschrieben, als ich ihn ersuchte, ein Hotelzimmer für uns zu
reservieren. Eigentlich hatte er formuliert: Ob es uns etwas ausmachen würde, seine Gäste zu sein? – Demnach beziehen wir
ein sonst frequentiertes Zimmer in Aminurs Wohnung, und der Kofferübernehmer stellt das Gepäck dort feinsäuberlich ab.
Aminurs Schlafzimmer wird für die nächsten Tage unseres sein. Um nicht Fettnäpfchen Nr. 4 zu beanspruchen, werden keine
weiteren Fragen gestellt. Ein Balkon steht zu unserer Verfügung. Das Viertel, in dem Aminur und Bilkis wohnen, ist ein
angesehener Bezirk. Ein Schranken sowie rund um die Uhr Wachhabende versehen ihren Dienst.
Der erste Eindruck beim Verlassen des Flughafens: Menschen, Menschen. Aminur lenkt den Wagen langsam, dennoch bestimmt,
durch die Masse. Wie dereinst für Moses teilt sich das Meer. Was veranlasst diese Menschen, massenhaft zum Flughafen zu
kommen und sich vor dem Maschenzaun zu drängen? Schwer vorstellbar, dass sie allesamt gekommen sind, um ankommende Freunde
oder Verwandte zu begrüßen. U-Bahn-Züge während der Hauptverkehrszeit erscheinen hierzulande dagegen total menschenleer.
"In Wien haben wir uns ständig gefragt", wird Aminur sagen, "wo denn eigentlich die Wiener sind?"
"Wir hatten beabsichtigt, euch zum Essen in ein Restaurant einladen, jedoch wegen der Verspätung der Maschine bleibt uns
nur mehr wenig Zeit." Stattdessen wurde ein kleiner Imbiss in Aminurs Wohnung vorbereitet, der keineswegs klein ist.
"Dagmar muss die Ausstellung für die morgige Vernissage vorbereiten, und zwei Zeitungsjournalisten warten bereits auf
dich in der Galerie Chitrak zum Interview. Wir müssen uns nicht hetzen, aber schön langsam sollten wir aufbrechen."
Langsam war in diesem Fall eher schnell. "Mehr als eine halbe Stunde sollten wir sie nicht warten lassen." Jetlag ade.
In einem seiner Mails hatte Aminur die Idee geäußert, Dagmar könnte doch als Wiener Galeristin eine Ausstellung
österreichischer Kunst in der Galerie Chitrak präsentieren. Anzahl und Formate der Bilder wurden per Mail gesendet.
"Die Rahmen lassen wir an Ort und Stelle anfertigen." Zudem kündigte Aminur an: "Wir werden einen Katalog drucken lassen."
Dazu waren Biographien und Porträtfotos sowie reproduktionsfähige Abbildungen erforderlich. Welche Künstler kommen in Frage?
Der Islam verbietet die Darstellung des menschlichen Abbildes. Daran denken figurativ tätige österreichische Künstler eher marginal.
Demnach keine Akte, nichts allzu Figuratives und nichts, was als provokant erachtet werden könnte. Die Größe der Arbeiten bestimmte
der größere unserer beiden Koffer. Kleinere Arbeiten verstauten wir im Handgepäck, falls es Probleme bei der Zollabfertigung gäbe.
Damit wenigstens ein paar Grafiken in der Ausstellung hängen.
Aminur hatte geschrieben: "Die Zollbeamten begreifen nicht, worum es geht, sie kennen Wörter wie Aquarell oder Siebdruck nicht einmal
auf Bangla, geschweige denn auf Englisch." Aminur kennt seine Landsleute besser als Unsereins. Zwar haben wir ein Business-Visum, denn
für ein Touristen-Visum hätten wir persönlich in Berlin vorsprechen müssen, da Bangladesch über keine diplomatische Vertretung in
Österreich verfügt. Mein Argument, dass fünf geplante Lesungen sowie eine Kunstausstellung Business sind, lässt Aminur nicht gelten.
Stattdessen mobilisiert er entsprechende Stellen, sodass wir das Visum erhalten und nicht daheim bleiben. Mit angemessenem Bauchweh
schmuggeln wir österreichische Zeichnungen, Aquarelle, Mischtechniken, Siebdrucke. – Die Zöllner haben andere Sorgen.
Am Begrüßungsabend wird ein Konzert veranstaltet. "Wir möchten euch einen Eindruck vermitteln, wie unsere Musik klingt." Ich bedauere
sehr, kein Aufnahmegerät für die Gesangsstimme von Latifa Helan, ihre Handharmonika sowie die typischen Saiteninstrumente ihrer
Begleitmusiker mitgebracht zu haben. Faszinierend, wie die Musiker mit gekreuzten Beinen auf der Bühne hocken. In der Wohnung von
Bilkis versammeln sich Künstler, Journalisten, Dichter, Schriftsteller und Freunde, allesamt im Kulturleben von Bangladesch in
irgendeiner Weise wesentlich. Hamiduzzaman Khan ist Professor an der Kunstakademie, er hat Skulpturen in Südkorea gestaltet.
Hayat Saif war Gast des Poesiefestivals in Medellin, Kolumbien, wo Aminur und ich einander kennengelernt haben. Bücher werden
gewidmet und Adresskarten getauscht.
Sämtliche Sitzplätze sind besetzt, die Sessel wurden eigens dafür herangekarrt. Womit ich nicht gerechnet habe: Als Ehrengast
erwartet man von mir eine Lesung: wenigstens ein paar Gedichte. Englisch verstehen alle. Damit ein Eindruck meiner Sprache anklingt,
einige Gedichte in Originalfassung. Vor Müdigkeit fallen mir fast die Augen zu. Fast dreißig Stunden ohne Schlaf. Unhöflich wäre es,
vom reichhaltigen Büfett nicht herzhaft zuzugreifen. Bier oder Wein gibt es allerdings hierzulande nirgendwo. Niemand raucht. Den
Verdauungs-Cognac genehmigen wird uns erst auf Aminurs Balkon, zwei Flaschen vorausahnend duty-free aus Dubai herangeschleppt.
Auszuschlafen ist dennoch nicht angesagt, nach dem Frühstück haben wir einen Termin zu einer Talkshow beim privaten Sender RTV.
Das Fernsehstudio befindet sich in einem Hochhaus des Stadtzentrums – rundherum umgeben von einem Markt. Die Händler schieben
ihre Karren mit Obst und Gemüse durch das Getümmel. In Käfigen eingeklemmt: Federvieh. Manch einem dient der Boden als
Geschäftsplatz. Sobald sein Bestand verkauft ist, packt er zusammen. Wie Aminur dennoch einen Parkplatz findet, bleibt rätselhaft.
An das Autofahren in Dhaka werde ich mich nicht gewöhnen. Vom Linksverkehr abgesehen, ist es vermutlich ganz gut, dass
es in diesem Land keinen Alkohol gibt. An allen Autos ist vor der Stoßstange ein zusätzlicher Kollisionsschutz angebracht.
Nebst heftigem Lenken ist Hupen eine notwendige Überlebensstrategie. In meinem gesamten Autofahrerleben habe ich nicht
annähernd gleich viele Hupeneinsätze zustande gebracht wie jeder Lenker im durchschnittlichen Alltag hierzulande. Das
"freundliche Handzeichen", um jemandem die Vorfahrt zu überlassen, wurde gewiss nicht in Dhaka erfunden. Wer dafür
verantwortlich ist, dass es trotzdem kaum Unfälle gibt, habe ich nicht herausgefunden.
Für die halbstündige Talkshow plaudern Aminur, Dagmar und ich über österreichische Kunst und Literatur. Sobald aus dem
Studio die Nachrichten live gesendet werden, müssen wir kurzfristig hinaus. Sodann werden wir neu geschminkt. Da ich im
Gespräch beiläufig erwähne, dass ich auf der Reise den Gedichtband "Gitanjali" ("Sangesopfer") von Rabindranath Tagore auf
Deutsch gelesen habe, eine Ausgabe von 1920, wird der Umschlag kopiert und eingeblendet. Nach wie vor ist Tagore, der 1913
als erster bengalischer Dichter den Nobelpreis erhielt, eine nationale Ikone. Eines seiner Gedichte (gewiss nicht sein bestes)
wurde für die Nationalhymne vertont.
Im Zuge der Unabhängigkeit spielte nicht zuletzt die Sprache eine wesentliche Rolle. Während in Pakistan Urdu gesprochen wird,
ist in Bangladesch, dem ehemaligen "Ost-Pakistan", Bangla (oder Bengalisch) die Staatssprache. Nach Hochchinesisch, Englisch,
Hindi, Spanisch, Russisch und Arabisch nimmt Bangla die siebente Stelle der weltweit verbreiteten Sprachen ein. An die Toten,
die ihrer Sprache wegen am 21. Februar 1952 von pakistanischen Soldaten ermordet wurden, erinnert ein Denkmal. Alljährlich finden
auf dem Platz davor Lesungen sowie eine Buchausstellung statt. Die bengalische Schrift entwickelte sich aus dem Sanskrit und wird
von links nach rechts geschrieben. Das Alphabet besteht aus elf Vokalen sowie 36 Konsonanten. Für Verbindungen von Konsonanten und
Vokalen existieren über 200 weitere Schriftzeichen. Wenn man im Stau steht, bietet sich anhand der Autokennzeichen die Gelegenheit,
durch einen Vergleich die Zahlen von null bis neun zu erlernen. Mehr habe ich allerdings nicht geschafft.
Aminurs Schwester und Schwager laden zum Lunch. Im Erdgeschoss bewachen Uniformierte die Fahrzeuge der Hausbewohner. Jene Frau, die
uns eine aus massivem Eichenholz geschnitzte Eingangstür öffnet, ist natürlich nicht die Hausfrau. Deshalb ignorieren und weitergehen,
bloß keine Begrüßung, sonst Fettnäpfchen Nr. 5! Die Hausfrau empfängt ihre Gäste im Salon. Der Hausherr leitet eine Bank und verwaltet
das Vermögen von irgendeinem Aga Khan. Die beiden Töchter studieren in London, und das Essen ist sagenhaft köstlich. Das Ehepaar schätzt
qualitätsvolle Kunst. Dementsprechend gestalten sie ihren Lebensbereich damit aus. "Für ausländische Besucher kann Alkohol vom staatlichen
Geschäft besorgt werden", sagt der Hausherr. Wir sind Selbstversorger.
"Wir müssen noch einen kurzen Besuch abstatten", erklärt Aminur. "Die Frau des ehemaligen Premierministers erwartet uns."
Hasna J. Moudud war früher Parlamentsmitglied und für Bangladesch bei der UNO tätig. Sie ist die Tochter eines berühmten
Dichters und schreibt selbst Gedichte. Bei unserem Kommen salutiert der Türsteher. Das Haus verfügt über eine weitläufige
Empfangshalle, an den Wänden zahlreiche Bilder. Sie möchte eine Stiftung nach Kurt Waldheim benennen, den sie aus seiner Zeit
als Generalsekretär der UNO kennt. "Er hat Bangladesch damals sehr geholfen. Die Watch List der USA war doch ein Unsinn?" Sie
möchte meine Meinung darüber hören. Ein Bediensteter serviert Tee.
Ich referiere über die Vergangenheit, welch kümmerliche Figur Waldheim bei der Wahl zum Bundespräsidenten dargeboten hat, nachdem
seine SS-Vergangenheit publik wurde. Erst verschweigen, dann behaupten: "Ich habe nur meine Pflicht erfüllt." Aufgrund einer geschickt
inszenierten Werbekampagne einer US-amerikanischen Agentur wurde er dennoch von den österreichischen Wählern gewählt.
"Offensichtlich ist es besser, diese Idee endgültig zu vergessen." Hasna Moudud entscheidet, den temporär gewählten Namen für
ihre Stiftung beizubehalten.
Wiederum salutiert der Uniformierte beim Verlassen der Villa.
"Wir haben unseren Zeitplan einigermaßen überschritten." Diese Feststellung von Aminur heißt in der Übersetzung, dass wir sogar für
"Bangla-Zeit" extrem spät dran sind. Das Gespräch mit der Frau des ehemaligen Staatspräsidenten brachte sein Terminkonzept kurzfristig
ins Wanken.
Österreichische Kunst in Dhaka ausgestellt zu sehen, ist ein mediales und gesellschaftliches Ereignis: Redner treten auf. Presse und
Fernsehen sind zahlreich anwesend. In der Galerie Chitrak hängen die inzwischen gerahmten Bilder von Helga Cmelka, Franz Schwarzinger,
Ernst Zdrahal und Robert Svoboda. Im Garten vor der Galerie sind wiederum sämtliche Sitzplätze besetzt. Ein lauer Abend. Der Galerieleiter,
selbst bildender Künstler, nebst dem Direktor der Kunst-Universität eröffnen die Ausstellung. Vor einer laufenden Fernsehkamera
interpretiere ich die Kunstwerke, erkläre Motive und Techniken, während Dagmar über österreichische Gegenwartskunst sowie die Arbeiten
der ausgestellten Künstler spricht. Die Sponsoren des Katalogs werden uns vorgestellt. Bei Softdrinks, Tee, Kaffee und Kuchen kommt man
ins Gespräch mit Botschaftern, Künstlern, Wirtschaftsleuten. Dem Bankdirektor und seiner Frau gefiele ein Kopf sehr gut, aber sie wagen
es nicht, ihn zu kaufen. Schwarzingers Arbeiten sind ihnen doch ein wenig zu radikal. Lieber entscheiden sie sich für abstrakte
Darstellungen, für die subtilen Strukturen von Helga Cmelkas Schriftbildern. Der Galeriechef klebt einige rote Verkaufspunkte.
"Bislang haben wir nichts gesehen, weder von der Stadt noch vom Land, lediglich eine Galerie sowie zwei Fernsehstudios." In dem
einen mussten wir am Eingang unsere Schuhe ausziehen. Der Moderator ließ lange auf sich warten und versuchte, mir österreichische
Geschichte und Literatur zu erklären. Allerdings wies sein Wissen historische Lücken auf, ganz abgesehen von groben Fehleinschätzungen
der gesellschaftlichen Gegenwart. Er trug Krawatte, ein Gilet, selbstverständlich ein makelloses Sakko und legte großen Wert darauf, gut
geschminkt zu werden. Mit den Kleidungsregeln sind wir inzwischen bestens vertraut. Eigentlich stimmt es nicht, dass wir nichts gesehen
haben: Wir haben Krüppel gesehen, Bettler, die ich nicht zu fotografieren wagte, menschliche Körper, unfähig zu sitzen oder zu stehen,
sowohl die Beine als auch die Füße sind nach hinten gewendet, das Rückgrat verbogen, Humane Torsi, die lediglich daliegen, auf Almosen
angewiesen. Indes unsereins sich im Sakko abschwitzt, um nicht hemdsärmelig als Kofferträger oder Chauffeur zu gelten.
Von den meisten Autofahrern werden die Bettler ignoriert, einer zeigt seinen Armstumpf, andere weisen auf ihre amputierten Beine hin.
An einer roten Ampel betteln zwei Mädchen, die Augen der Älteren sind nebelig verhangen: darin weder eine Pupille noch eine Iris.
Gegen das Wegschauen hilft nur eine grüne Ampel. Die Jüngere erkennt meinen Blick im Seitenspiegel des Wagens. Auf diese Weise
versucht sie, einen Kontakt herzustellen, die Insassen des Autos auf sich aufmerksam zu machen. "Man kann nicht allen etwas geben,
es sind zu viele", bemerkt Aminur sachlich.
Mitten im Verkehr stoppt Aminur plötzlich, um bei einem Zeitungshändler einen Packen Zeitungen zu kaufen. Die Busse machen einen
Bogen um das parkende Auto. Niemand erregt sich darüber. Unbeirrt weisen die "Beifahrer" der Autobusse die zu- und aussteigenden
Passanten ein, geben dem Fahrer ein Zeichen, sobald er weiterfahren kann. In sämtlichen Tageszeitungen sind Berichte abgedruckt:
Aminurs Übersetzungen meiner Gedichte, Fotos oder Interviews.
Drei Stunden dauert die Fahrt in den Nordwesten des Landes in die Provinz Tangail. Dort werden wir zu einer Lesung an einer
Mädchen-Universität erwartet. Seit einigen Jahren ist die Schulbildung der Mädchen gratis, was auf längere Sicht eine
Umgestaltung der Gesellschaft mit sich bringen wird. Wenn in einer islamischen Gesellschaft nicht der Mann die Familie
versorgt, sondern die Frau das Geld nach Hause bringt, hat sie das Sagen. Nur drei Prozent der Menschen sind in diesem
Land über sechzig Jahre alt, der Rest ist zwischen fünfzehn bis vierzig Jahre. Auffällig, wie emsig die Menschen entlang der Reiseroute arbeiten. Die Reisfelder werden händisch gepflanzt und geerntet, technische Hilfsmittel sind rar.
Wir schwitzen im Auto, und die Mädchen samt den Lehrern schwitzen in der Mittagssonne des Women’s College Gopalpur.
Blumen und Reden, Autogramme und eine Lesung; musikalische Darbietungen der Schülerinnen. Ein paar von ihnen tragen eine "Burka",
bloß die Augen sind zu sehen. Wenn sie essen, ziehen sie den unteren Teil der Burka mit zwei Fingern der linken Hand vom Gesicht
weg und schieben die Gabel darunter, heben den Stoff weiter an, wenn nötig. Im Flugzeug wurde kein Kompromiss gestattet. Meistens
isst man in Bangladesch mit den Fingern.
Der Schuldirektor lädt zum Essen in sein Haus. Während die Gäste essen, serviert der Gastgeber. Ihn dazu zu motivieren, sich
mit uns an den Tisch zu setzen, wäre Fettnäpfchen Nr. 6. Lieber versuchen wir, den Reis und das Huhn, Fisch und Fleisch mit den
Fingern in den Mund zu befördern, obwohl für die Gäste ein Besteck zur Verfügung steht. Die Gastfreundschaft verlangt, dass von
den Speisen eine Menge übrigbleibt. Sobald wir in das nahegelegene Dorf Konabari fahren, eines der bekanntesten Töpferzentren des
Landes, wird sich die Familie zum Essen an den Tisch setzen. Obwohl die Menschen in den Dörfern arm sind, hungern sie nicht, können
sich zweimal täglich eine Mahlzeit leisten. Auch ihre Bekleidung lässt sie keinesfalls als Bettler erscheinen. In jedem Dorf gibt es
beim Greißler zu kaufen, was benötigt wird.
Unsere gemeinsame Lesung im BRAC Centre, im Besitz der gleichnamigen NGO, liegt Aminur besonders am Herzen. Sechs Kamerateams filmen
und berichten in den Spätnachrichten davon. (Wir werden emsig durch die Kanäle zappen und einige davon in unserem Zimmer am Bildschirm
sehen.) Trotz erheblicher Probleme aufgrund gelegentlicher Ausgangssperren kommt der Flötenspieler Ustad Azizul Islam mit zwei
Begleitmusikern aus Chittagong angereist, um den Abend zu begleiten: einem Tabla-Spieler sowie einem Musiker, der den
"basso continuo" vorgibt, ein Instrument mit langem Hals und einem kleinen Resonanzkörper. Beinahe möchte ich Ustad Azizul endlos
zuhören, da seine Musik Ruhe und Kontemplation vermittelt – ein ideales Gewebe, auf dem sich Poesie betten lässt.
Prominenz aller Art gibt sich ein Stelldichein, zwischen Außenministerium und Wirtschaft. Wiewohl Poesie geschätzt wird,
finden Lesungen in Dhaka eher selten statt. "Poeten sind Seher, denen es gelingt, die Zukunft mit der Gegenwart und der Vergangenheit
in Einklang zu bringen." Al Mahmud, einer der prominentesten und vielseitigsten Autoren des Landes, Dichter und Prosaschriftsteller,
ist anwesend. Sein Name ist mir zwar bekannt, ihn persönlich kennenzulernen freut mich umso mehr. Dass er einige Verse meiner Gedichte,
gerade gehört, sogleich lobend zu zitieren vermag, bringt ein angeregtes Gespräch über Poesie in Gang.
"Heute wurde vom Militär zwischen 23 Uhr und 6 Uhr früh eine Ausgangssperre verhängt. Die politische Situation ist instabil."
Aminur nimmt es gelassen. Gnadenlos stecken wir im Stau. Ich bewundere seine Gelassenheit am Steuer seines Wagens. Der Verkehr steigert
sich zu einem unüberschaubaren Chaos. "Bald wird sich die Situation wieder beruhigen." In ein paar Tagen werden Wahlen stattfinden.
Im Nationalmuseum werden Dagmar und ich weit mehr angestaunt als die ausgestellten Objekte. "Austria – nicht Australia." Einer der
Besucher zieht ein Büchlein hervor, in dem Nationalflaggen abgebildet sind. Als er die richtige gefunden hat, strahlt er über
das ganze Gesicht. Und im Goethe-Institut rede ich Deutsch.
"Wann ich nach Chittagong komme?", hatte mich der stellvertretende Außenminister gefragt. "Sobald man mich einlädt."
manfred, chobot
geboren 1947 in wien. von 1991 bis 2004 herausgeber der reihe "lyrik aus österreich".
redakteur der literaturzeitschrift "podium" (1992 bis 1999) und "das gedicht" (1999 bis 2002).
publikationen:
der bart ist ab – sms-roman (limbus & sms.at 2010)
der tag beginnt in der nacht, eine erzählung in träumen (sonderzahl 2011)
schmäh ohne, aber echt – wiener satire und humor aus 100 jahren (hg. mit gerald jatzek, edition moKKa 2011)
die wunderwelt durch die ich schwebte – literarische träume (hg. mit dieter bandhauer, sonderzahl 2011)
versuch den blitz einzufangen, roman (limbus 2011)
manfred chobot im web
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