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litera[r]t
[heft 12] [dezember 2015] wien - st. wolfgang



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lichtstill
Axel Görlach


rand • erscheinung

I

hitzeverzogenes viertel, pressatmung
rußgeschwärzter wände versunken im müll
                höre ich auf, istanbul zu erfinden

katzen tragen ihr skelett auf der haut, blutige
zeitungsreste (hürriyet/freiheit)
& der abgeschlagene kopf einer makrele,
ihre starren augen wie die von weisen
                                die wissen, das glück

ist nicht hier, ist eine schlangensäule aus delphi,
stachel im fleisch der suchenden
                  oder ein mondkaltes
halseisen derer, die’s fanden (die angst
                                        es zu verlieren)


II

                            der raum kippt, die gasse
halten wäscheleinen zusammen, hosen,
hemden wie verlassene häute – so löst sich
        das körperliche auf hier, wird gestaltloses

unheil, eine gecekonduwolke, klebstoffdunst
in der nase des jungen, der auf der treppe liegt,
eingerollt & still in einer anderen welt

& es ist seine stadt, die an ihn denkt
wie an nichts (& nichts sind seine träume
                aus weißen papiertaschentüchern)

seebeben künden sich an, schwankendes licht
der laterne, aus dem lautlos falter fallen,
marodierende köter mit körpern aus mastix
                                        stark vergrößert

fließen ihre schatten die fassaden entlang




terrasse • der lodos

wir trinken rauch durch lederschlangen
                                verbunden
mit dem nabel der welt, der eine wasserpfeife
ist oder ein im rakı versenktes gespräch

vom meer her sprengen die opiumreiter
des lodos über den kai, gischtfetzen
schlagen stadtpläne & touristen
                       gegen die wände der paläste

kardamomgrüne flut überall wildes kreiseln
der plastikflaschen, unsere kompassnadeln
zwischen den gravitationsfeldern
              der minarette ein unstillbarer sog

des verschwindens. sintflut, byzanz, der atem
osmanischer häuser aus holz &
was sonst noch den bosporus runterging:

brennende tanker & träume, von brücken
die unerhörten schreie
der selbstmörder. auch unser schicksal fällt

              in form von weißen lokumwürfeln,
die über den schalenrand kippen,
wenn einer von uns einen gedanken anstößt

lodos |    sturm aus südwest




park • das licht


dort ruhte die schwermut der stadt
unter judasbäumen, ihr angerissener schatten

sickerte ins gras & was von ihm übrig blieb,
sangen die spatzen aufs dach des pavillons

ein regen aus jasmin wehte ein mädchen weg
über den weißen kiesweg ins halbdunkle

einer zeder, die allein stand wie alter gesang

lutscherdreher, luftballons trugen ihre farben
den hügel hinauf – hier war das licht
eine reine form von blau, wir hielten stille

in unseren händen, die umschlug in wind,
die wärme verrosteter schaukeln, schwerelos

strichen schwarzstörche über das gestrüpp,
in dem ein brunnen unterging
& ließen ihr dunkles leuchten zurück

              auf den rändern staubiger schalen



© beim autor | textproben aus dem buch lichtstill

axel görlach wurde 1966 in kaufbeuren geboren, lebt als autor und als sprachlehrer für ausländische jugendliche in nürnberg. pädagogikstudium in nürnberg, studium der philosophie und neueren deutschen literaturgeschichte in erlangen und hagen, studium des deutschen als zweitsprache und der türkischen sprache in nürnberg und istanbul. veröffentlichungen in anthologien und zeitschriften.




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