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litera[r]t
[heft 10] [juni 2014] wien - st. wolfgang
Der "Fo"
Peter Hodina
Ich lebte mit meiner geträumten Sippschaft in einer Art Slum. Meine Angehörigen waren allesamt Träumer.
Ihre Hauptbeschäftigung war es, zu träumen, diese Träume einzufangen und über ihnen zu brüten. Das führte
häufig zur Verinselung dieser Einzelnen. Mir fiel in dieser Sippschaftskommune die Rolle sozusagen eines
"Außenministers", manchmal auch noch zusätzlich, falls wir von außen angegriffen wurden, eines
"Verteidigungsministers" zu. Mir war es möglich, in beiden Welten zu leben. Einerseits verstand ich
die Meinen in ihrer Traumwelt allerbestens, war ja selber von ihrem Geblüt, andererseits ließe sich
in dieser bürgerlichen Welt ein solches Traumleben nicht lange halten, wenn man es nicht souverän
beschützte. So hatte ich das Leben der Meinen als ein "Experiment" sogar akademisch – als ein Projekt
der "Feldforschung" – provisorisch abzusichern vermocht; dabei war es ihr natürliches Leben. Sie waren
so und konnten nicht anders. Was wir betrieben, war eine Landwirtschaft oder besser Gartenwirtschaft
auf niedriger Selbstversorgerstufe. Selbstlos möchte ich die Meinen nicht nennen, aber freigebig.
Trotzdem waren sie als Träumer letztlich egozentrisch, sie schliefen fast immer jeweils auf ihrer
eigenen Decke, weggedreht von allen anderen. Manchmal hatten wir auch kleine Haustiere bei uns aufgenommen,
Küken, zahme Ratten, Hamster, Katzen, dergleichen. Bisweilen nahm die SYMPSYCHOSE die Formen der
Verwahrlosung an, dann kümmerten wir uns auch um diese Tiere nicht mehr und hofften, sie würden ja unsere
unzuverlässige Art inzwischen kennen und sich anderweitig mit Nahrung versorgen können, zumal sie jederzeit
auch in den "Garten" hatten hinauslaufen und hinausflattern können. Wieder einmal hatten wir es so weit kommen
lassen, erwachten aus wochenlangem Schlaf, rieben uns die Augen. Keines der kleinen Tiere war mehr zu hören,
tot und schweigend häufte sich die Schutthalde der von uns wieder einmal so lange vernachlässigten Dinge. Da
begannen wir panisch aufzuräumen, in der Hoffnung, dass die Tiere wieder – und zwar noch lebend – hervorkämen.
Sie waren von dem Schutt der Dinge wie nach einem Erdbeben verschüttet. Waren sie verhungert? Oder
davongelaufen? Fortgeflattert? Mit Tränen in den Augen bereuten wir unsere Fahrlässigkeit und räumten was
ging, mit auf einmal schnellem Tempo, auf. Verfielen ins Gegenteil der Verlotterung. Sahen, dass wir ja durchaus
Ordnung machen KONNTEN! Doch die Tiere blieben verschwunden. Da ging ich zu meiner Großmutter mütterlicherseits
und erzählte ihr, dass die Tiere verschwunden seien. Sie sagte daraufhin, sie habe ihren "Fo" noch! Und sie holte
einen großen Käfig vom Kasten herunter, in dem der von mir verabscheute "Fo" saß. Er hatte das Aussehen eines
Teddybären, mit dem ein Kind nicht spielen möchte. Ein abgenutztes Plüschtier, so schien es, mit einem
erbärmlichen Kopf ohne Mund. Die beiden Augen waren nur durch einen durchgängig horizontalen Strich angedeutet,
die Nase durch einen langen senkrechten. Es war ein schwarzes T. Das war auch schon sein Gesicht. Misstrauisch
und angewidert betrachtete ich das Wesen, diesen heißgeliebten Schatz der Großmutter. Sie nahm es aus dem Käfig
und auf einmal verwandelte es sich. Es nahm die Gestalt eines mächtigen Auerhahns an, dessen Flügel aber aus
hartem Leder waren, nein, es waren statt der Federn förmlich Panzerplatten. Der "Fo" war ein Vogel-Reptil. Oft
schon hatte ich von einem "Fo" geträumt, es aber nie festhalten können, um was es sich handelte: allein der Name.
Diesmal aber konnte ich ihn in mir abbilden. Das zusätzlich Erstaunliche war, dass der "Fo" ein Menschengesicht
hatte: ein schönes, elfenbeinhelles Gesicht eines etwa dreißigjährigen jungen Mannes. Ein strenges edles Gesicht.
Und da begann mich der "Fo" nun in die Hand zu beißen... Beziehungsweise: meine Hand war es, die anschwoll im
Munde des "Fo". Und je mehr sie anschwoll, desto mehr gruben sich die Zähne des "Fo" in meine Hand. Der "Fo"
schien mich zu ermuntern, mich immer mehr von ihm beißen zu lassen. Ich spürte jeden einzelnen seiner scharfen
Zähne sich in mein Handfleisch hineingraben. Mein physischer Schmerz war gegenüber meinem Staunen unerheblich.
Ich erkannte auf einmal, dass die Wesen substantiell etwas anderes waren, als sie an der Oberfläche uns für
gewöhnlich erscheinen.
© beim autor
peter hodina ist 1963 in salzburg geboren. veröffentlichte zahlreiche beiträge in literaturzeitschriften, anthologien,
im hörfunk und im internet. vorträge im in- und ausland über thomas bernhard, witold gombrowicz, bertolt brecht, ludwig hohl,
jean améry, pawel florenski, ferdinand ebner. preisträger beim 6. harder literaturwettbewerb 2000.
rauriser förderungspreis 2004. seit 2007 mitglied der grazer autorinnen autorenversammlung (gav).
publikationen auswahl
steine und bausteine 1, berlin 2009. (avinus verlag)
steine und bausteine 2, berlin 2010. (avinus verlag)
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